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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

wirklich Gesehene und Erlebte und erspart sich und dem Leser falsche Ansichten und Darstellungen.

Ehe ich von den englischen Besitzungen in Amerika scheide, theile ich die hauptsächlichsten Thatsachen mit, die zur Bildung eines richtigen Gesammt-Urtheils gehören.

Die Canadier sind Engländer mit deren Freiheit, ohne deren Steuerlasten, ohne deren Heuchelei und Schauspielerei eines „High life“ (vornehme Klassen), ohne deren Kirche, die mehr kostet, als das ganze preußische Militair, ohne deren Minister und Land-Aristokraten, sind freie Amerikaner, ohne den tiefen Schandfleck von Sklaverei, der im Norden Amerika’s die Leute moralisch, im Süden factisch, entehrt. Deshalb findet man in Canada alle Vortheile Englands und Amerika’s ohne deren Lasten und Verunstaltungen. Die Ländermasse, über welche die Kultur ihre Felder-, Gärten-, Eisenbahn- und Kanalnetze zieht, bildet größtentheils herrliche Landschaften mit fruchtbarem Boden, auf welchem ein heißer, dauernder Sommer alle Naturkräfte zur höchsten Thätigkeit ruft und im dauernden Winter sie in tiefen, ruhigen, stärkenden Schlaf versenkt, während welcher Zeit die Menschen auf Schnee und Eis lustig in Schlitten- und Schlittschuhparthieen ihre Muskeln stählen und ihre Lebensgeister frisch und frei erhalten. Weder politisch noch finanziell angegriffen dehnt sich die dünne Bevölkerung rasch in Wohlstand und Masse aus und vermehrte sich seit 1763 von 60,000 auf mehr als 2 Millionen in Verhältnissen, die eine Verdoppelung aller 10 Jahre erwarten lassen. Der steigende Wohlstand geht aus der Thatsache hervor, daß das Grundeigenthum im westlichen Canada allein, 1763 auf 14 Millionen Thaler abgeschätzt, im Jahre 1852 schon den Werth von 260 Millionen Thaler erreicht hatte. Dabei kamen schon 1851 über 10 Thaler importirte Güter auf jeden Kopf. Im Jahre 1852 vermehrte sich das Postwesen um 250 Anstalten und circulirte auf einem Gebiete von mehr als 3 Millionen englischen Meilen. Diese Zahlen sind die Armeen von Canada. Kupfer-, Kohlen- und Eisenminen. Nutzholz für die ganze Welt, Schifffahrt, Eisenbahnbauteu u. s. w. enthalten noch goldene Schätze für kommende Millionen von Menschen. Grund und Boden ist überall billig zu haben und wird in jeder Stadt durch gedruckte Listen von 20 Sgr. bis 10 Thaler für den Acker (je nach Lage und Fruchtbarkeit, Kultur oder Wildheit) ausgeboten. Für 2 – 3 Thaler per Acker bekommt man guten Urboden, der oft cultivirtem vorzuziehen ist, da derselbe oft bis auf’s Aeußerste erschöpft ward, ehe man ihn ausbot. Jeder Mensch mit blos ein Paar gesunden Armen kann täglich 1 Thlr. 10 Sgr. verdienen, Bauhandwerker werden mit 2, 3 und mehr Thalern Tagelohn bezahlt. Da die Nachfrage für Arbeit viel schneller wächst, als das Angebot, müssen die Arbeitslöhne noch lange steigen.

Detroit, am St. Clair-Flusse, vor hundert Jahren ein kleines französisches Dorf von Holz, wo man die von Indianern erbeuteten Rauchwaaren in Empfang nahm, ist jetzt eine blühende, weite Stadt mit breiten, geschäftigen, baumbeschatteten Straßen, stolzen Geldfestungen (Banken), riesigen Hotels und sechs Stockwerke hohen Vorrathshäusern, die Schwelle des großen Westens: Illinois, Wisconsin, Iova u. s. w., wo Leben und Kultur noch schneller aufquellen und anschwellen, als in den ältern nordamerikanischen Freistaaten. Als Beispiel führen wir das 1831 zuerst begonnene Chicago am westlichen Gestade des Michigan-Sees (Illinois) an, welches jetzt 65,000 Einwohner zählt. Im Jahre 1830 noch eine ganz menschenleere Wüste, jetzt mit 65,000 wohlhabenden Bewohnern in stolzen Häusern mitten in goldenen Feldern, Farms und Gärten! Vor 40 Jahren wurde der ganze Boden, auf welchem Chicago steht, für 500 Dollars ausgeboten. Jetzt wird die Baustelle zu einem einzigen Lagerhause mit 10,000 Dollars bezahlt. Detroit ist die Schwelle, das Thor zu dieser neueren Welt des Westens in der neuen Welt und daher von steigender Handels- und Kultur-Bedeutung, an welcher die Deutschen in Detroit (darunter besonders viele Gebildete, die von den Krämpfen der alten Welt in den Jahren 1848 und 1849 ausgestoßen wurden) mit ein Paar guten Zeitungen, als Lehrer, Künstler und Industrielle hier bereits eine bemerkenswerthe Stellung einnehmen. Mein Versprechen, von Keinem besonders und namentlich zu melden, will ich halten.

Von Detroit sieht man auf dem britischen Gestade drüben hinter Werften und Bäumen Windsor, den neuen Eisenbahnhof und weiße Villa’s, hervorglänzend aus grüner Waldung und Dawn (Morgendämmerung) wie der Hauptort der entkommenen und hier colonisirten Sklaven heißt, denen man auch sonst in Canada in allen möglichen Situationen begegnet, auf Eisenbahnen als Conducteurs, in Hotels als Kellnern, auf Dampfschiffen als Aufwärtern und dienstbaren Geistern aller Art. Sie sind auch hier in dienenden Verhältnissen glücklicher, wie in der nordamerikanischen Freiheit als Herren, da sie dort jeder Yankee ungestraft stoßen und treiben kann, während sie hier überall als volle Menschen ganz nach ihrem Werthe und Verdienste geschätzt und behandelt werden.

Nach einer herrlichen Fahrt von 12 Stunden durch den lachenden Ohio-Staat, durch die malerischen Thäler des Ohio- und Miami-Flusses stieg an einem sonnigen Morgen die Königin des Westens vor uns auf, – Cincinnati – die deutsche Hauptstadt Amerika’s, der Brennpunkt deutscher Kultur in der neuen Welt. –

Cincinnati erhebt sich von den blühenden Ufern des Ohio breit und stolz in aufsteigenden Terrassen und grünen Hügeln. Keine Stadt, deren ich so viele gesehen und bewundert, blickt so stolz und schön um sich, als diese Königin freier-deutscher Kultur in die breiten, schäumenden Wogen des Ohio und in das gartenähnliche Kentucky am andern Ufer. Ihre massiven Bauten und Paläste von röthlichem Sandstein, aus denen die grünen, Straßen erquickenden Bäume mit dicken Kronen, und Kirchen, mit schlanken Thürmen und schloßartige Fabriken mit hohen Schlotten hervorschießen, waren vor 60 Jahren noch Wildniß und Wüste, voll zerstreuter Rothhäute, ohne die Spur eines Weißen. Jetzt leben und gedeihen über 2 Mill. Weiße in diesem Staate Ohio und 125,000 davon in Cincinnati; 3600 Engländer, 13,000 Irländer, 40,000 Deutsche und die Uebrigen Amerikaner. Der Zahl nach sind die Deutschen allerdings in der Minorität, aber jede Straße, jedes Gebäude, jede Industrie, jedes Schild, der ganze Ton und die Physiognomie der Stadt beweisen, daß sie die geistige Majorität sind. Nirgends sind deshalb auch die Yankees, die „Know-Nothings“ mit ihrem nationalen und kirchlich methodistischen, heuchlerischen Schwindel so erbost gegen die Deutschen, als hier, so daß es schon öfter zu blutigen Reibungen und Emeuten kam, da sich unsere Herren Landsleute eben nichts octroyiren lassen. Erst unlängst wurden die Häuser zweier Deutschen „gemobt,“ d. h. vom „Mob,“ dem Pöbel, gehetzt durch fromme Methodisten, welchen man das Verlocken deutscher Kinder in deren Betschwesterei ernstlich verboten hatte, so wüthend demolirt, daß die bei solchen Gelegenheiten stets zu spät kommende Polizei nichts mehr zu retten fand. Allerdings sind die Deutschen, die auch hier noch nicht Meister in der großen Kunst sind, sich selbst zu regieren und zu bemeistern, im Allgemeinen nicht zu entschuldigen, daß sie ihre intellektuelle Ueberlegenheit praktisch nicht besser geltend zu machen wissen. Sie poltern und schreien bei solchen Gelegenheiten hitzköpfig und eigensinnig in’s Gelag hinein und wissen nicht, daß das Leben eine Macht ist, welches bei allem Feuer von Ueberzeugungen und Ideen immer mit Rücksicht auf bestehende Verhältnisse d. h. mit einer Art von Diplomatie behandelt sein will. – – –

Die Ohio-Gegenden um Cincinnati herum erinnern oft an die Rheinlande. Und wenn man dabei von den verschiedensten Seiten deutsche Töne und wieder hört und deutsche Gesichter sieht, ist die Täuschung zuweilen vollkommen. Ich zweifle nicht, daß Ohio mit seiner stolzen, glücklich gelegenen, intellektuell blühenden Hauptstadt das eigentliche amerikanische Deutschland wird. Die englische Sprache, die sonst überall Siegerin über andere geworden, wo Anglo-Sachsen sich mit ihren Schiffen und Waaren einfanden, hat sich hier allein genöthigt gesehen, nachzugeben. Die Amerikaner, Engländer und Irländer lernen deutsch, um mit Deutschen deutsch zu reden und lassen an ihren Läden anschlagen: „Hier spricht man deutsch,“ eine Anzeige, die sich auch in andern amerikanischen Städten immer häufiger einfindet und sich auch in London, wo sich noch vor wenigen Jahren die Meisten schämten, als Deutsche erkannt zu werden, immer dreister hervorwagt. Das „hier spricht man deutsch“ hat noch seine Zukunft in der Welt. –

Cincinnati ist das Vorrathshaus, die Hauptstation zu den unermeßlichen Gebieten des Mississippi-Flußnetzes, die cultivirende und versorgende Mutter für diese neue Welt in der neuen. Am Ohio, 1600 englische Meilen vom atlantischen Meer gelegen,

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