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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Wir müssen hierbei noch ein merkwürdiges Mißverhältniß berühren, welches sich in der Bevölkerungsbewegung vieler größern Städte Deutschlands im vorigen Jahrhundert zeigt. Dasselbe bestand darin, daß die Zahl der Sterbefälle regelmäßig die Zahl der Geburten überstieg, sodaß der einheimische Bevölkerungsstamm eigentlich in fortwährendem Abnehmen begriffen war und nur durch Einwanderungen von außen wieder ergänzt oder vermehrt werden konnte. Am Auffallendsten zeigt sich dieses Mißverhältniß in Leipzig, denn hier verhielt sich die Zahl der jährlichen Geburten zu der Zahl der jährlichen Todesfälle wie 3 zu 4, d. h.: von den etwa 30,000 Einwohnern, welche Leipzig damals hatte, starben jährlich im Durchschnitt 1100, während nur 860 durch Geburten hinzukamen, sodaß der eigentliche Bevölkerungsstamm jedes Jahr um dritthalbhundert Menschen verringert wurde, die durch Zugänge von auswärts ersetzt werden mußten. Mehr oder minder ähnlich war das Verhältniß in Berlin, Wien, Dresden, Frankfurt a. M., Augsburg. Nürnberg, München, u. s. w.; heutzutage findet bekanntlich, mit seltenen Ausnahmen, überall das Gegentheil statt, ein regelmäßiger Ueberschuß der Gebornen über die Gestorbenen. Jenes frühere Mißverhältniß rührte wohl größtentheils daher, daß in den genannten Orten und den ihnen gleichartigen durch glänzende Hofhaltungen, künstliche gewerbspolitische Maßregeln oder auf sonst welche Weise die Erwerbszustände eine derartige Gestalt angenommen hatten, daß sie zwar viele Menschen durch die Aussicht auf große Gewinnste und leichtes Fortkommen anlockten, daß aber ein großer Theil dieser Einwanderer und selbst der Einheimischen zu einer eigentlichen Selbstständigkeit des Erwerbes, einer festen Niederlassung und der Gründung einer Familie es nicht brachte. In Berlin z. B. lebten unter ohngefähr 110,000 Einwohnern vom Civil 21,000 unverheirathete und keiner verheirateten Familie angehörige Personen.

Die gegentheilige Erscheinung zeigt sich schon damals bei den Orten, welche durch eine zwar weniger glänzende und in’s Große getriebene, aber mehr auf eignen Füßen stehende und innerlich gesunde Industrie emporstrebten, insbesondere den gewerbfleißigen Mittelstädten Sachsens und Thüringens, Chemnitz, Bautzen, Zittau, Görlitz, Altenburg, Erfurt u. s. w. Hier wuchs die Bevölkerung, nicht hastig aber stetig, von innen heraus, durch regelmäßige Überschüsse der Geburten über die Sterbefälle.

Im Allgemeinen hat – und darin zeigt sich eine unzweifelhafte erfreuliche Folge des geschehenen Kulturfortschritts – die Sterblichkeit in der neuern Zeit gegen früher ganz entschieden und theilweise sehr bedeutend abgenommen. In England starb zu Ende des 17. Jahrhunderts, so viel sich aus damaligen Angaben schließen läßt, durchschnittlich im Jahr ein Mensch von 25, höchstens 30, zu Anfange des 18. Jahrh, einer von 32, zwischen 1730 und 1740 einer von 34,5, 1841 aber einer von 43. In Frankreich war dieses Verhältniß vor 50 Jahren 1 zu 35, vor 10 Jahren zu 42,25. In Preußen starb zwischen 1748–93 durchschnittlich im Jahr der 33., zwischen 1816/49 der 35. Mensch; in Hannover früher der 35., neuerdings nur der 44.–45., in Böhmen 1784–1814 der 30., 1815–28 der 34. Kurz, überall verminderte Sterblichkeit. Das Verhältniß der Geburten und der Todesfälle zur Kopfzahl der vorhandenen Bevölkerung (welche beide Verhältnisse mit einander verglichen, den Maßstab für das Wachsthum oder die Verringerung ergeben) wird für einige Hauptländer Europa’s heutzutage folgendermaßen angegeben:

für England das erste wie 1 zu 31, das zweite wie 1 zu 46,2 [1]
Preußen 1 23,6 1 34,58
Oesterreich 1 25,3 1 33,1
Baiern 1 28 1 33,4
Frankreich 1 35 1 42,6

Die Ursachen der vermehrten Lebensdauer der Menschen sind theils in der im Allgemeinen bessern und reichlichern Nahrung (wir kommen auf diesen Punkt in einem folgenden Artikel zurück), theils und wohl hauptsächlich in der verbesserten Gesundheitspflege und Heilkunde, so wie in der Ueberwindung oder doch Milderung gewisser das menschliche Leben bedrohender Naturwirkungen, durch die Fortschritte menschlicher Kultur zu suchen. Um in diesen Beziehungen nur Einiges anzuführen, so hat die Erfindung und allgemeine Einführung jenes wirksamen Gegengiftes gegen die natürlichen Blattern, der Kuhpockenimpfung, Tausenden von Kindern und Erwachsenen das Leben gerettet, welche in früheren Zeiten regelmäßig durch jenes Uebel hinweggerafft wurden. In Württemberg z. B. starb noch im letzten Dritttheil des vorigen Jahrhunderts 1/13 aller Kinder an den Pocken, dagegen zwischen 1822 und 1833 nur noch 1/1600. Ansteckende Krankheiten, zu denen meist die damals so häufigen Kriege, bisweilen auch Hungersnoth und schlechte Nahrungsmittel den Grund legten, oder die, bei dem Mangel zweckmäßiger Quarantaineanstalten, vom Auslande eingeschleppt wurden, verwüsteten, in frühern Jahrhunderten, wiederholt die europäischen Länder und auch unser Vaterland. Die furchtbarste Seuche dieser Art war der um die Mitte des 14. Jahrh. von Asien aus über Europa sich ausbreitende „schwarze Tod,“ dessen Verheerungen so ungeheuer waren, daß, wie Geschichtsschreiber berichten, man die Todten unbegraben ließ, die Ernte nicht mehr besorgt wurde, die Hausthiere verwildert auf den Feldern umherliefen und selbst Gatten, Aeltern und Kinder einander flohen, da Jedermann nur auf seine eigne Rettung bedacht und jedes Band menschlicher Gesellschaft gelöst war. Volle 50 Jahre lang zog dieser Würgengel über Europa, Asien, Afrika hin. In London sollen 80,000, in Paris 100,000, in Wien eine Zeit lang täglich 7–800 Menschen an dieser Seuche gestorben sein. In den gesammten Franziskanerklöstern Europa’s kamen, nach dem Berichte ihres Generals zu Rom, 124,400 Menschen daran um. Zwei berühmte Zeitgenossen dieser furchtbaren Verheerungen, die Dichter Petrarca und Boccacio[WS 1], haben uns Schilderungen derselben hinterlassen, welche die unermeßliche Größe des Uebels vollkommen bestätigen. Wenn auch nicht ganz so heftig, kehrte doch die Seuche (oder „Pest,“ wie man sie nannte) in den folgenden Jahrhunderten mehrmals wieder, in Zwischenräumen von 20, 50 bis 60 Jahren. Ihr letzter großer Ausbruch fällt in das Jahr 1713. Aber auch solche Krankheiten, welche jetzt die menschliche Kunst, bei rechtzeitiger Fürsorge, gewöhnlich sicher zu heilen versteht, welche wenigstens in der Regel nur vereinzelte Todesfälle herbeiführen, traten damals fast immer epidemieartig auf und forderten ihre Opfer gleich zu Hunderten. So raffte noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein sogenannter „böser Hals“ (wahrscheinlich die Bräune) in manchen Gegenden Deutschlands eine furchtbare Menge Kinder auf einmal hin. So starben in Berlin 1751 (bei einer Bevölkerung nicht viel größer als die des heutigen Leipzigs) binnen 18 Wochen 500 Kinder nur allein an den Masern.

In einem Bezirke, wo die gewöhnliche Zahl der jährlichen Todesfälle 400 betrug, erlagen den Masern, Pocken und hitzigen Brustfiebern in einem Jahre über 500 Menschen, sodaß die Sterblichkeit auf mehr als das Doppelte stieg. Der Hungertyphus brachte nicht minder bedeutende Verheerungen hervor. In Sachsen, welches damals 11/2 Mill. Einwohner zählte, sollen in den Nothjahren 1771–72 150,000 Menschen daran gestorben sein, also 1/10 der Bevölkerung. Und dergleichen Nothstände (wenn auch nicht so arg, wie in den erwähnten Jahren) pflegten damals durchschnittlich fast in jedem Jahrzehnt sich einzustellen, denn das Land war noch zu wenig und zu unvollkommen angebaut, und für rechtzeitige Versorgung der Mangel leidenden Gegenden mit auswärtiger Zufuhr fehlte es theils an der nöthigen volkswirthschaftlichen Fürsorge, theils an hinreichenden Verkehrs- und Transportmitteln.

Aber, könnte man hier fragen, ist denn das immer raschere Anwachsen der Bevölkerung eines Landes auch wirklich ein Glück für dasselbe? Oder ist nicht vielmehr die Gefahr der Uebervölkerung eine der furchtbarsten, die ein Land treffen kann? Auf diese Frage können wir nur Antwort geben, indem wir eine andere Gruppe von Verhältnissen, die Nahrungs- oder Erwerbsverhältnisse der vorhandenen Bevölkerung, ebenfalls geschichtlich und statistisch beleuchten. Damit wollen wir uns in einem besondern Artikel beschäftigen.


  1. d. h. auf je 1000 Einwohner kommen jährlich 21,6 Todesfälle und 32,3 Geburten, so daß ungefähr 11 mehr geboren werden, als sterben, und folglich auf je 1000 ein jährlicher Zuwachs von 11 stattfindet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Boccolino
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_635.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)