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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Wunde, und selbst die Trostsprüche der Religion vermochten nicht eine Linderung herbeizuführen.

Cäcilie hatte seit einiger Zeit den Gedanken angeregt, den Winter wieder in der Stadt zuzubringen, denn sie gab sich der unsichern Hoffnung hin, jene Stimme noch einmal zu hören, die ihre Seele so mächtig erschüttert hatte. Wie ein Kind, das sich auf die Geschenke freut, so berechnete Cäcilie die Wochen und Monate bis zum Weihnachtsfeste. Es war zu einer fixen Idee bei ihr geworden, daß der junge Prediger die Christrede wieder halten würde.

Der Pastor Braun, den man der Hofräthin B. schon in der Residenz empfohlen hatte, stattete der armen Mutter oft Besuche ab. Die Blinde schien Gefallen an den Unterhaltungen des lebhaften, gutmüthigen Greises zu finden, und so oft er kam, empfing sie ihn mit einer schmerzlichen Freude.

Es war in den ersten Tagen des November, als der Pfarrer auf das Schloß beschieden ward. Die Hofräthin empfing ihn allein in einem Zimmer.

„Herr Pastor,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Sie haben bis jetzt die traurige Gemüthsstimmung meines Kindes gekannt, aber der Grund derselben ist Ihnen unbekannt geblieben, weil ich Cäcilien versprochen hatte, ihn gegen jedermann zu verschweigen. Ich kann dieses Versprechen nicht mehr halten, ich muß mich Ihnen ganz entdecken, denn Geist und Körper meiner blinden Tochter scheinen gleich zu leiden.“

„Das wolle Gott verhüten!“ sagte theilnehmend der Pfarrer.

„Der Himmel hat mich mit Glücksgütern reich gesegnet, aber das Glück einer Mutter hat er mir versagt. Cäcilie liebt Sie wie ihren Vater, und ich vertraue Ihnen wie meinem langjährigen Seelsorger – Sie müssen Alles wissen, damit wir berathen können.“

Die Hofräthin erzählte ihm nun die Mittheilungen, die ihr Cäcilie gemacht.

„Was ist zu thun?“ fragte sie dann.

„Cäcilie besitzt Geist und Verstand – ehe wir andere, unsichere Mittel ergreifen, müssen wir das einleuchtender Ueberredung anwenden.“

„Alle meine Versuche sind fruchtlos geblieben.“

„Meine Worte, die Worte eines greisen Predigers, werden in einem so zarten Gemüthe wie dem Ihrer Tochter nicht ohne Anklang bleiben. Gestatten Sie mir, daß ich Fräulein Cäcilie allein spreche. Sie mag mich als ihren Beichtvater, als ihren Seelsorger betrachten.“

Die Hofräthin führte den Pfarrer durch ein angrenzendes Gemach, dann öffnete sie leise die Thür eines kleinen Saales. Beide blieben auf der Schwelle stehen. Die scheidende Herbstsonne warf einen bleichen Schein durch die mit reichen Vorhängen geschmückten Fenster. Cäcilie, in schwarze Seide gekleidet, saß in der Mitte des mild erwärmten Saales, ihr Arm lag auf der vor ihr stehenden glänzenden Pedalharfe, und das Haupt ruhte, als ob sie schliefe, auf dem Arme. Den Augen der Mutter entrollten Thränen bei diesem Anblicke, und auch der Pfarrer konnte sich einer schmerzlichen Rührung nicht erwehren, obgleich er durch einen Wink zur Fassung ermahnte. Die Blinde verblieb einige Augenblicke in ihrer Lage, dann hob sie langsam den Kopf empor und wandte ihr reizendes Gesicht nach dem Orte zu, von wo sie das Geräusch der Eintretenden gehört hatte. Der Pfarrer, der die Blinde seit einiger Zeit nicht gesehen hatte, machte die schmerzliche Bemerkung, daß ihre Züge bleicher waren als sonst, und daß die großen von einem Kranze langer Wimpern umgebenen Augen ein feuchter Glanz erfüllte.

„Bist Du es, Mutter?“ fragte sie leise.

„Ich bin es, mein liebes Fränlein,“ antwortete in freundlichem Tone Pastor Braun.

„Sie, Herr Pastor?“ flüsterte sie verwundert.

„Sonst erkannten Sie meine Schritte, noch ehe ich eintrat –“

„Ach, Verzeihung,“ sagte sie verwirrt und indem sie sich erhob – „die Einsamkeit des Zimmers hatte mich in einen so lebhaften Traum versenkt –“

„Daß Sie die Wirklichkeit darüber vergaßen!“ fuhr rasch der Pastor fort, indem er der Blinden entgegentrat, die ihm ihre beiden Lilienhände zum Gruße bot.

„Was ist die Wirklichkeit für mich, für eine Blinde?“ sagte sie seufzend.

„Cäcilie!“ rief im Tone sanften Vorwurfs der Pfarrer.

Ein leichter Schrecken durchzitterte die zarten Glieder Cäcilien’s und ihre Hände, die in denen des Pfarrers ruhten, begannen leise zu beben.

„Ihre Wirklichkeit, mein Kind, ist leider nur eine sehr beschränkte, aber es bewegt sich ein Wesen in ihr, dessen Lebensaufgabe Ihr Glück ist,“ fuhr ruhig mahnend der Pfarrer fort.

„Mein Gott, zeihen Sie mich nicht der Undankbarkeit!“ flüsterte sie bewegt. „Meine gute Mutter ist mir ja Alles!“

Pastor Braun führte die Blinde zu dem Sopha, dann ließ er sich neben ihr nieder. Indem er sanft ihre Hände drückte, begann er:

„Cäcilie, betrachten Sie mich als Ihren Vater, und erlauben Sie mir, daß ich zu Ihnen wie zu meiner Tochter rede. Gestatten Sie mir, daß ich mich in den engen Kreis Ihrer Wirklichkeit dränge, daß ich an die Seite Ihrer verehrten Mutter trete und die Schatten aufhellen helfe, die das Gebiet Ihrer Träume überschreiten und das schwache Licht Ihrer Wirklichkeit zu erlöschen drohen.“

Wie eine Marmorgestalt, von der Hand eines Meisters geformt, saß Cäcilie da. Unter den langen gesenkten Augenwimpern quollen heiße Thränen hervor, die still über die bleichen Wangen rannen. Die feinen erbleichenden Lippen bewegte ein kaum merkliches Zucken. Der Pfarrer beobachtete ruhig den Eindruck, den seine Worte auf die blinde Jungfrau ausgeübt hatten.

„Gestatten Sie es mir?“ fragte er nach einer Pause.

„Sie kennen mein Geheimniß!“ flüsterte sie, ohne aufzusehen.

„Ich kenne es, Cäcilie, denn Ihre Mutter hat meinen Beistand angerufen, den Beistand eines Seelsorgers.“

„Meine arme, arme Mutter!“ rief sie, in lautes Schluchzen ausbrechend. „Sie theilt meine Leiden, und ich vermag so wenig, sie zu bekämpfen.“

„O, Sie vermögen viel!“ rief der Greis mit mahnender Stimme. „Fragen Sie Ihren Verstand, den die Liebe Ihrer Mutter so schön gebildet hat; fragen Sie Ihr Herz, das die Mutter ehrt und liebt, und wenn dann –“

„Um Gottes Willen, nicht weiter!“ rief hastig Cäcilie und indem sie mit ihren blinden Augen den Greis anstarrte. „Sie führen mich in eine Welt zurück, die ich zittere zu betreten. Mein Gott, wie ich leide!“ schluchzte sie in einem unbeschreiblichen Tone und indem sie die Hände auf den wogenden Busen preßte, als ob sie einen plötzlich entstandenen Schmerz unterdrücken wollte.

„Cäcilie,“ sagte mild der Pastor und ergriffen von dem Anblicke der weinenden Blinden, „Cäcilie, ich bin nicht gekommen, Ihnen Vorwürfe zu machen, sondern mit Ihnen über den Gegenstand zu berathen, der Ihnen so großen Kummer macht.“

Sie hob rasch das in Thränen gebadete Gesicht empor und horchte auf.

„Sie sind ein Prediger, lieber Herr,“ flüsterte sie und ein hoffnungsfrohes Lächeln belebte, das bleiche Antlitz. „Sie verkündigen Gottes Wort wie er – kennen Sie ihn? Kennen Sie den Mann, dessen Stimme alle Saiten meines Herzens bewegte, daß sie immer forterklingen? Wenn Sie ihn kennen, müssen Sie wissen, wie schön seine Stimme ist, die aus einer erleuchteten edeln Brust kommt. Dann müßten Sie ihn lieben, wie ich ihn liebe!“ fügte sie schwärmerisch hinzu und ihr Gesicht verklärte sich. „Noch leben alle seine Worte in meinem Gedächtnisse, denn ich habe sie mir tausendmal wiederholt – ach, und ich mußte sie mir ja wiederholen, ein seltsamer Trieb zwang mich dazu. Eine ewige Nacht herrscht um mich her, ich sehe die Menschen nicht, ich höre sie nur – aber ihn glaube ich zu sehen, wenn die Stimme erklingt – mit den Worten bildet sich ein Begriff von seiner Gestalt. Dann lächelt er mich mitleidig an, und ich muß mir selbst sagen, daß er nur Mitleiden mit mir empfinden kann, denn wer wird ein blindes Mädchen lieben? O, könnte ich sehen!“ seufzte sie in einem herzerschütternden Tone. „Nicht um seine Gestalt zu erblicken, denn ich liebe ja seine Stimme und seinen Geist, die sich darin ausspricht – ach, nur deshalb, daß ich kein blindes Mädchen wäre.“

„So hoffen Sie auf seine Gegenliebe?“ fragte mild der Pastor.

„Ach, wenn das wäre!“ flüsterte Cäcilie mit einem Entzücken, das die ganze verderbliche Tiefe ihrer Leidenschaft verrieth. „Wenn er mich wiederliebte!“ fuhr sie fort, als ob sich ihr Geist verirrte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_618.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)