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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Jener junge Bauer,“ sagte der Oberst, „ist ein Verwandter meiner Marianne. Wunderst Du Dich nicht darüber,“ fragte er lächelnd, „daß sie dem Bauernstande angehört, nachdem Du sie kennen gelernt hast?“

„Da ich weiß, daß Du selbst keine Tochter hast,“ antwortete Eberhard von Detmar, „so habe ich sie für eine Verwandte, vielleicht für eine Tochter Deines verstorbenen Bruders gehalten. Das Mädchen ist nicht allein schön und gut, sie besitzt auch Kenntnisse und eine Tournüre, die nur in den höhern Ständen heimisch zu sein pflegt.“

„Wollte Gott, Franziska, meine Nichte, hätte Marianne’s Charakter, ich würde viel darum geben. Beide sind zwar sehr schöne Mädchen, aber in Bezug auf Sinnesart kann ich sie mit dem Nord- und Südpol vergleichen. Franziska hat alle Fehler ihres Vaters geerbt. Sie liebt den Aufwand, sie spielt, reitet und lästert wie ihr Vater. Und dabei sind ihre Einkünfte so gering, daß sie kaum zur Bestreitung eines bescheidenen Haushaltes ausreichen. Von mir hat die übermüthige Verschwenderin nichts zu erwarten, denn ich halte es für eine Sünde, einer leichtsinnigen, und fast möchte ich sagen, verderbten Person Vorschub zu leisten. Marianne hingegen ist ein Muster von weiblichen Tugenden – sie besitzt nützliche Kenntnisse, ist die Seele meiner großen Wirthschaft und wird von Allen geschätzt, die sie kennen. Und dabei spricht sie Französisch, spielt fertig das Piano und singt wie die Sontag.“

„Das ist viel,“ antwortete von Detmar. „Wenn man bedenkt, daß sie aus dem Bauernstande hervorgegangen.“ –

„Du weist noch nicht Alles!“ rief der Oberst, der mit großer Liebe von dem Mädchen sprach. „Sieh’ dorthin!“

Er zeigte auf ein verfallenes, mit schwarzem Stroh bedecktes Häuschen, das in einer Entfernung von vielleicht fünfzig Schritten an dem Abhange eines Hügels lag. Die beiden kleinen Fenster desselben waren durch zerbrochene Laden geschlossen, der Schornstein war zur Hälfte eingestürzt, und an den Lehmwänden empor wucherte das Unkraut.

„Meinst Du jene elende Hütte?“ fragte Eberhard.

„Ja!“

„Nun, was ist es damit?“

„Diese elende Hütte ist der Geburtsort Marianne’s.“

Eberhard sah seinen alten Freund verwundert an. Der Gesichtsausdruck des Obersten war plötzlich ein anderer geworden, mit ernsten, wehmüthigen Blicken sah er nach den Ruinen des Häuschens hinüber.

„Wir haben noch eine halbe Stunde bis zu dem Reviere, das wir heute durchstreichen wollen,“ sagte er, indem er gewaltsam seine Blicke von dem Punkte losriß. „Du bist mein ältester, mein bester Freund, Eberhard, und damit Du den Grund meiner besondern Vorliebe zu Marianne, die Dir vielleicht ein wenig seltsam erschienen sein mag, kennen lernst, und damit Du siehst, daß ich als alter Junggeselle dennoch eine Tochter besitze, muß ich Dir die Geschichte dieses verfallenen Häuschens erzählen, das auf mein Leben einen merkwürdigen Einfluß ausgeübt hat. In dieser Zeit,“ fügte er hinzu, „wo Franziska Alles aufbietet, sich in mein bisher so ruhiges Leben einzudrängen, fühle ich das Bedürfniß, mich der Vergangenheit recht deutlich zu erinnern und das Urtheil eines Freundes zu vernehmen. Darum höre mich an, Eberhard.“

„Ich kenne Dein Herz, Friedrich, und darum glaube ich Deine Handlungen richtig beurtheilen zu können.“

„Es sind diesen Herbst elf Jahre, daß ich, nur von meinem Kammerdiener begleitet, jenen Busch durchstrich, um ein Reh zu verfolgen, das uns schon mehr als einmal entgangen war. Du kennst den Eifer eines Jägers, wenn es gilt, ein schönes Stück Wild zu erlegen, aber Du kennst auch den Groll, der erwacht, wenn man sich am Ziele wähnt und getäuscht wird. War es doch, als ob dieses Reh sich ein Vergnügen daraus machte, mich zu necken. Vier, fünf Mal stand es in der besten Schußweite, und eben so oft setzte es raschelnd durch das Unterholz, wenn ich das Gewehr anlegte, obgleich ich mich mit der größten Vorsicht genähert hatte. Die Dämmerung war schon angebrochen, als ich nach zweistündigem Suchen endlich die Fährte wieder erwischte. Mein Begleiter hatte eine andere Richtung eingeschlagen, um mir das Wild entgegen zu treiben. Ich war allein. Jetzt denke Dir meine Freude, als ich plötzlich das Thier bei einer Quelle erblicke, die aus einem Felsen rinnt, bei der ich kürzlich erst ein Reh erlegt hatte. Deutlich sah ich es zwischen den Blättern stehen, den Kopf zu dem Wasser hinabgesenkt. Diesmal sollst du nicht wieder davonkommen, dachte ich, legte an, zielte einen Augenblick, und feuerte ab. Dem Knalle folgte ein Rascheln in den Gebüschen, und das Thier verschwand. Ich stürze nach, aber kaum hatte ich die Quelle erreicht, als ich neben mir ein dumpfes Stöhnen und den Ausruf höre: Großer Gott, sorge für mein Weib und mein Kind! Meine Jägerfreude verwandelte sich plötzlich in einen furchtbaren Schrecken, und indem ich die Zweige auseinanderbiege, sehe ich einen Mann in dem trockenen Laube liegen, der sich vor Schmerzen wie ein Wurm krümmte. Daß ihn mein Schuß getroffen, unterlag keinem Zweifel. Ich bin nicht feig, Eberhard, aber in diesem Augenblicke fehlte es mir dennoch an Muth, das Opfer meines Jagdeifers näher zu untersuchen, denn der Gedanke, einen Menschen getödtet zu haben, lähmte mir alle Glieder. Das Gewehr entsank meiner Hand, und ich sah bestürzt auf den armen Mann hinab, der vor Schmerzen laut jammerte und klagte.

„Ich bin kein Wilddieb!“ stöhnte er. „Warum haben Sie auf mich geschossen? Meine Frau liegt krank – ich wollte Quellwasser holen. Mein Gott, mein Gott, wer wird für sie sorgen – ich muß sterben!“

„Wer seid Ihr denn, mein armer Freund?“ fragte ich.

„„Georg Lorenz – wohne nicht weit von hier – am Saume des Busches.“

„Der Verwundete lag regungslos am Boden. Hier muß rasche Hülfe geschafft werden, dachte ich, und ohne mich lange zu besinnen, hob ich den Mann empor, um ihn nach dem nahen Häuschen zu tragen, das ich kannte. Noch hatte ich den Ausgang des Gehölzes nicht erreicht, als mein Kammerdiener, durch den Schuß angelockt, mir eilig entgegenkam. Schon von Weitem rief er mir zu, ob ich endlich das Thier erlegt habe, denn es sei nach dieser Ecke des Busches geflohen.

„Hilf mir diesen armen Menschen tragen, Gottfried!“ rief ich aus.

„„Was ist’s mit ihm?“

„Ich habe, von der Dämmerung verblendet, auf ihn geschossen.

„„Dem Wilddiebe ist recht geschehen!“ rief Gottfried, der in demselben Augenblicke zu mir herantrat, als ich den Verwundeten in das Gras niederlegte.

„„Georg Lorenz ist kein Wilddieb.“

„Bei Nennung dieses Namens zuckte Gottfried, ein guter Bursche, heftig zusammen. Trotz der Dämmerung konnte ich den erschütternden Eindruck gewahren, den meine Unglücksbotschaft auf den treuen Diener ausübte.

„„Georg Lorenz?“ wiederholte er mit bebender Stimme. Dann schwieg er, als ob er mir geheim halten wollte, daß ich einen braven Mann unglücklich gemacht habe. Nach einigen Augenblicken beugte er sich zu Lorenz hinab. Ich sah, wie er zurückbebte, aber dennoch seine Fassung zu bewahren suchte.

„„Treten Sie den Rückweg an!“ murmelte Gottfried. „Ich werde für den Verwundeten sorgen. Dort am Raine wartet der Wagen.“

„Die Regungslosigkeit des Opfers meiner Unvorsichtigkeit erfüllte mich mit einer gräßlichen Befürchtung. Ich hatte es von jeher vorgezogen, mir in allen Lagen des Lebens so viel als möglich Gewißheit zu verschaffen, und auch hier konnte ich es nicht über mich gewinnen, mit der Ungewißheit über das Schicksal des armen Lorenz heimzukehren. Rasch kniete ich auf den Boden, und ergriff die Hand des Unglücklichen. Sie war kalt und starr. Bestürzt sah ich meinen Kammerdiener an.

„„Der Bauer ist ohnmächtig geworden!“ rief er aus, um mich zu trösten.

„Ich eilte nach der Quelle zurück, um in meinem Hute Wasser zu holen – da fand ich den irdnen Krug, den Lorenz, wie er mir gesagt, für seine kranke Frau hatte füllen wollen. Der Anblick des Gefäßes trieb mir die Thränen in die Augen, und zum ersten Male in meinem Leben verwünschte ich die Jagd. Ich schöpfte Wasser, und stürzte zu dem Verwundeten zurück. Alles Bemühen blieb vergebens – Lorenz war tod. Eberhard, wie soll ich Dir meinen Zustand beschreiben! Da stand ich an der Leiche Dessen, den ich gemordet hatte! Ach, wie gern hätte ich mit meinem ganzen Vermögen das Leben des armen Landmanns

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