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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

in die Stadt und die Festungswerke hineinwagte, sagt in seinem Buche darüber, es sei Alles gar nicht so schlimm und weiß der englischen Flotte die totale Zerstörung Sebastopols und der ganzen russischen Marine sehr leicht zu machen. Ginge es nicht mit Gewalt auf dem Wasser durch die Kanonengrüße hindurch, gäbe es doch weiter südlich eine Menge unbeschützte Häfen und Buchten, in welche man hineinlaufen könne, um dann zu Lande und zu Fuße von hinten herum nach Sebastopol zu marschiren, obgleich man in den Häfen und Buchten theils auf Schlamm und Sandbänke, theils auf Felsen stoßen und nach zurückgelegtem glücklichen Landmarsch Schießmauern und Kanonen, Kasernen und unfreundlichen Bergen gegenüberstehen würde, von denen leicht Kanonen und Flinten herabwärts losgehen könnten, während die englischen und französischen Seesoldaten zu Lande mit ihren kurzen muthigen Messern gegen die langen Arme der Kanonen und konischen Spitzkugeln vergebens ankämpfen würden. Da übrigens der Admiral Dundas nicht erst auf diese Nummer der Gartenlaube warten wird, um zu erfahren, wie er Sebastopol nehmen oder nicht nehmen solle, wollen wir uns hier den Kopf nicht weiter mit strategischer Weisheit zerbrechen. Die englische Flotte hat so lange Muße gehabt, daß sie jedenfalls einen feinern Plan ausgesonnen haben wird, als wir vermuthen, wenn sie nicht etwa sprüchwörtlich gehandelt und den Müßiggang zu des Teufels Ruhebank gemacht haben sollte. Als Stadt bietet Sebastopol wenig Interessantes, da das ganze Leben sich auf Soldatenerscheinungen beschränkt, die nur insofern Bürgerliche, darunter einige deutsche Gastwirthe, unter sich dulden, als sie für die Bedürfnisse und die Bequemlichkeiten des Militärs zu sorgen haben.

Zu den größten Sehenswürdigkeiten für nicht militärisch-interessirte und passionirte Leute gehört ein großer Aquaduct, der sich von den Regierungsdocks an der südlichen Seite des großen Hafens als ein 10 Fuß breiter und beinahe drei deutsche Meilen langer Kanal hinzieht und dann parallel mit dem schwarzen Flusse im Inkermannthale (der den Hafen mit Süßwasser aber auch mit dem furchtbaren Süßwasserwurme versieht, welcher ganze Schiffe durchlöchert) hinläuft, um die Communication nach dem Innern der Insel zu erleichtern. An einer Stelle bildet er durch Felsen einen 300 Yards langen Tunnel, der als ein Meisterstück gilt. Die Hohlwege und Höhenzüge und Buchten um den größeren Hafen herum geben der ganzen Gegend ein wildromantisches Gepräge, das sich freilich bei trockenem Sommerwinde zuweilen Meilen weit in den entsetzlichsten Staub auflöst.




Blätter und Blüthen.

Cara Fatíma, die türkische Jungfrau von Orleans. Zwar ist sie nicht so jung an Jahren, und so alt in der Geschichte, so vergöttert von Schiller und verspottet von Voltaire, als die Jungfrau von Orleans, aber auch noch nicht von den Engländern verbrannt. Sie lebt und sitzt zu Pferde, wie ein Husaren-Lieutenant und führt die wuchtige Lanze. Cara Fatima ist eine Heroine, eine Königin des jetzigen Türkenkrieges, eine Prophetin dem Volke. Als solche darf sie nicht jung und schön sein. Und so ist sie auch nichts weniger als eine Jungfrau von Orleans oder eine Kiß-Amazone, sondern eine alte, kleine, braune Greisin von sechzig Jahren. Als sie mit etwa 300 Kriegern durch die Straßen von Constantinopel ritt, liefen Tausende zusammen und bewiesen ihr Andacht und Verehrung. Sie reitet mit ihren beiden weiblichen Lieutenants in männlicher Kleidung (alttürkisch). Dazu kommen die Costüme ihrer Soldaten, die alle Trachten und Waffen der Welt in sich zu vereinigen scheinen. Die feinsten Gewehre, Colt’s Drehpistolen, hölzerne Keulen mit Eisenspitzen, wie in den ältesten Zeiten, Pfeil und Bogen, Lanzen, Streitäxte – alle diese Waffen contrastirten oft mit der Uniform auf’s Pikanteste, da nicht selten die feinste, neueste Waffe mit dem rohesten Urcostüm sich vereinigt und der Träger einer preußischen Uniform die benagelte Herkuleskeule schwingt. Wo ist die Königin dieser Freischaaren hergekommen? „Man wußte nicht, woher sie kam“, wie Schiller von dem Mädchen aus der Fremde sagt. Ihre Soldaten verehren sie als Königin, Prophetin und Generalin. Sie ist nach Constantinopel gekommen, um dem Sultan ihre Dienste anzubieten und für die Aufrechterhaltung des Korans und der Türkei gegen die Moskowiter zu streiten. Einige haben behauptet, aus Liebe zu ihrem Ehemanne, der in einem Gefängnisse von Candia schmachte, sei sie Kriegsheldin geworden, um durch ihre Thaten die Regierung zur Gnade für ihn zu bewegen. Daß man keine Polizeiakten, keinen Paß mit Personalbeschreibung von ihr hat, erhöht das romantische Interesse an dieser seltsamen Erscheinung. Um aber unsere polizeilich gewöhnte Betrachtungsweise nicht ganz unbefriedigt zu lassen, erfahren wir, daß sie aus dem Stamme der wilden, kriegerischen Kurden hervorgeritten ist und ihre Soldaten der Mehrzahl nach auch Kurden sind.




Das Wrack. Die gräßlichsten Schreckensscenen zur See wurden neulich als offizieller Bericht mit dem Barkschiffe Cuba nach Sunderland gebracht. Das Liverpooler Schiff Bona Dea verließ am 22. Januar Havanna und war schon am 23. dem furchtbarsten Sturme Preis gegeben. In der Nacht erschütterte es eine vom Sturme gepeitschte Woge dermaßen, daß es sofort leck ward. Alle Hände pumpten sofort über 24 Stunden lang, wobei aber das Wasser bis in’s Mitteldeck stieg. Eine der gewaltigsten Wogen, die der Sturm über das Schiff hinwegschoß, riß den Capitain und vier Mann mit fort und mehrere folgende Wassermassen spülten Cajüten und Vorrathskammern so gründlich aus, daß nicht ein Krümel Brot, nicht ein Tropfen Trinkwasser auf dem Schiffe blieb. Masten und Segel waren dabei bis auf einen Stumpf des Mittelmastes und ein Stück altes Segel in der Segelkammer mit fortgerissen. Die Matrosen banden das Stück an den Stumpf und brachten so wieder 24 Stunden unter fortwährendem Orkane zu. Die Berichte des Schiffsbuchs lauten nun so:

Dienstag 24. Januar. Der Orkan wüthet fort und peitscht fortwährend Wogen über’s Deck. Fortwährendes scharfes Umsehen nach Hülfe war erfolglos.

Donnerstag 26. Ein großes Tuch ausgebreitet, Regenwasser zu fangen, doch die See ging stets darüber hin, so daß wir keinen Tropfen bekamen. Decke der Cajüte niedergerissen, in der Hoffnung, einige Reste Brot zu finden. Vergebens. Dritter Tag ohne irgend eine Nahrung und ohne Wasser. In der Nacht Klagen über Durst, doch die Leute blieben in Schranken.

Freitag 27. Sahen eine Barke bei Tagesanbruch. etwa 3 (engl.) Meilen ab. Doch sie wollte keine Notiz von unserm Wrack nehmen. Einige Leute waren nicht mehr zu halten, sie tranken Seewasser. Während des Tages eine Ratte gefangen und in gleichen Portionen unter sie vertheilt.

Sonnabend 28. Tranken viele Seewasser und kauten Blei und Taue.

Sonntag 29. Sahen zwei Schiffe, etwa 3 Meilen ab. Keine nahm Notiz von unserer schrecklichen Lage. Die Schrecknisse des Verhungerns brachen aus, der Durst quälte bis zum Wahnsinn. In der Nacht ward eine Katze bemerkt. Alle sprangen auf und zerrissen und verschlangen sie gierig. Bei einigen Leuten Symptome des Wahnsinns. Füße begannen zu schwellen.

Montag 30. Kein besseres Wetter. Keine Rettung. Furchtbar viel Seewasser getrunken.

Dienstag 31. Einige Leute wahnsinnig. Sprachen. Einen zu opfern, den das Loos träfe, die Andern zu retten. Abends 5 Uhr ein Schiff in Sicht; die ganze Nacht gewacht und gehofft, bei Tagesanbruch kein Schiff zu sehen.

Mittwoch 1. Febr. Die Leute loosten. Ein halbtodter Bursche, James Liley erbot sich freiwillig. Mr. M’Leod überredete sie, noch auf Rettung zu warten.

Donnerstag 2. Der Sturm mäßig. Die Leute nicht mehr zu regieren. Verlangen, daß James Liley geopfert werde. Der Sterbende that es selbst und zerschnitt seine Arme an zwei Stellen. Kein Blut. Die Leute saßen mit wirren Blicken um ihn herum. Plötzlich schnitt ihm Einer den Hals durch und – (was jetzt folgt, läßt sich ohne Schaudern nicht niederschreiben).

Freitag 3. Einige Leute wüthend wahnsinnig. Kriechen auf dem Deck herum in furchtbarem Zustande. Einige konnten sich nicht mehr bewegen.

Sonnabend 4. (Zwölfter Tag ohne Nahrung und Wasser.) Mr. M’Lead und zwei Matrosen noch allein fähig, aufrecht zu stehen. Die Andern liegen still, vier im Sterben. Das Seewasser hat ihre Leiden auf’s Furchtbarste gesteigert. Um 9 Uhr ein Schiff durch den Nebel bemerkt. – So weit das Tagebuch.

Das Schiff erwies sich als die Cuba von Sunderland auf dem Wege von Coquimbo nach Swansea[WS 1] (England) Capitain F. G. Orgen. Bis 1 Uhr Mittag waren sie alle an Bord gebracht. Die Wahnsinnigen wurden in einen reinlichen luftigen Raum unterm Hinterdeck getragen, die andern anderswo untergebracht und zuerst mit etwas gekochtem Reis- und Gerstenwasser erquickt. Samuel Blane starb gleich nachdem er gerettet war. Vier Andere starben an den folgenden Tagen, obgleich sie mit aller Vorsicht und Sorgfalt behandelt wurden. Sie blieben bis zum Tode wahnsinnig. Zwei wütheten bis zum letzten Athemzuge.

Die Geretteten, im Ganzen Sieben, wurden in Swansea[WS 2] an’s Land gesetzt und haben sich erholt. Zu beachten ist hierbei, daß diese Sieben nicht die körperlich Kräftigsten, wohl aber die moralisch Stärksten waren, die mitten in den Qualen des Hungers und den Wahnsinn erzeugenden Martern des Durstes so viel Willenskraft behalten hatten, kein Seewasser zu trinken. – Freilich hat auch zu ihrer Rettung der unglückliche Matrose und Held des Sterbens, James Liley, beigetragen. Ohne die Ratte, die Katze und den Menschen hätten sie natürlich während der zwölf Tage alle verhungern und verdursten müssen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Swansen
  2. Vorlage: Swansen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_272.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2019)