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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)


Ihr niederträchtigen Rebellengeister!
Ich, ich befehl’ es, euer Herr und Meister!“

Doch kaum war meinem Mund das Wort entflohen,
So brach ein unbeschreiblich Toben los,
Ein Schimpfen, Schelten, Schnauben, Schreien, Drohen,
und der Tumult erhob sich riesengroß.
Des großen Hauptbuchs mächt’ge Donnerstimme
Bot endlich dem verrückten Haufen Ruh’,
Und rief sodann mit unverhalt’nem Grimme
Aus seinem Blättermund mir höhnend zu:
„Elender Wurm! Du unser Herr und Meister?
Was bildet dieser Erdenkloß sich ein?
„Buchhalter“ – nicht wahr? – doppelter“ – so heißt er,
Und darum denkt er unser Herr zu sein? –
Anmaßender? Wenn ich jetzt meinen Schaaren,
Den Hunderttausenden von Ziffern hier,
Gebiete, daß sie auseinander fahren,
Und sich zerstreu’n im weiten Luftrevier:
Wärst du etwa der Mann, sie festzuhalten?
Und wenn sie ausmarschirten auf mein Wort,
Fingst du sie ein mit menschlichen Gewalten,
Und stelltest wieder sie an ihren Ort?“ –

„Unwürdiges Geschöpf von Papp’ und Leder!“
Rief ich ergrimmt, – „du schwatzest hirnverbrannt;
Was ich geschrieben habe mit der Feder,
Das steht, – an seinem Platze festgebannt!“

Ich sprach es, und ein teuflisch Hohngelächter
Des ganzen Haufens war die Antwort drauf.
„Ha!“ – schrie das Hauptbuch, „zeigt es dem Verächter,
Ihr Zahlen! Vorwärts! Marsch! – in schnellem Lauf!“

Da plusterten die Blätter auseinander
Von all’ den Büchern und im Nu begann
Auf ihnen ein Gelauf und ein Gewander,
Als käm ein Heer von hunderttausend Mann.
Aus ihrer Linien rothen Barrieren
Zog jede lange Zifferreihe aus,
Und alle Spalten sah ich rasch sich leeren;
Mir stand das Haar zu Berg vor Schreck und Graus.
Erst zogen sie in schnurgeraden Zügen.
Im richtigen Kolonnenmarsch einher;
Doch plötzlich machten sie sich’s zum Vergnügen,
Umherzustieben in die Kreuz und Quer.
Ameisen ähnlich kroch der ganze Haufen
Um mich herum in scheußlichem Gewirr:
Das war ein Gehen, Kommen, Rennen, Laufen;
Das war ein hirnverrückendes Geschwirr!
Die Nullen kugelten sich auf den Dielen;
Die Achten ringelten sich Schlangen gleich;
Die Sechsen sah man mit den Neunen spielen;
Die Fünfen trieben manchen Possenstreich;
Die Einsen stachen mich mit ihren Spitzen,
Und ließen, wie ein zornig Bienenchor,
Den gift’gen Stachel in der Haut mir sitzen;
Die Zweien krochen heimlich mir in’s Ohr.
Dazwischen scholl der Bücher höhnisch Lachen;
Sie schlugen höhnisch ihre Blätter auf,
Um die Verzweiflung in mir voll zu machen. –
Nicht eine einz’ge Zahl stand mehr darauf!

In Todesangst rief ich in das Gewimmel:
„Ich bin verloren, ein geschlagner Mann!
Weh’ mir! Was wird aus mir? Hilf Himmel!
Was fang ich nun, ich Aermster, morgen an?
Schon seh’ ich, wie in Winkeln und in Ecken
Die losgelass’nen Ziffern sich verstecken;
Wie, wo such’ ich sie wiederum zusammen,
Zu setzen jed’ an ihre Stelle hin?“ –
Und, Hirn und Herz durchtobt von Höllenflammen.
Sank ich zu Boden, und mir schwand der Sinn.

Da rief mit triumphirend stolzem Tone
Das große Hauptbuch, zu mir hingewandt:
„Beugst du dich nun vor meinem Herrscherthrone,
Hast du nun endlich meine Macht erkannt?
Ich sehe dich zerknirscht in tiefer Reue,
Und bin voll Huld geneigt, dir zu verzeih’n.
Wohlan, so schwör’ aufs Neue jetzt mir Treue;
Dann soll die Angst allein dir Strafe sein!“ –

Ich schwor – was hätt’ ich Alles nicht versprochen,
Um nur die Zahlen wieder fest zu sehn?
Zerschmettert, unter lautem Herzenspochen
Kroch ich zu Kreuz mit unterwürf’gem Flehn.

Das Hauptbuch commandirte nun Retraite:
„Halt! Achtung! Richtet euch, und rücket ein!“
Und gleich, als wenn ein Wind darunter wehte,
Zerstob der wilde Knäul der Zahlenreihn.
Schnell sah ich die Colonnen sich formiren,
Auf’s Schönste, trotz dem besten Grenadier.
Und zugweis wiederum zurückmarschiren
In’s alte, kaum verlass’ne Standquartier.

Ich dankte Gott, daß sie nur wieder standen
In Reih’ und Glied; das Hauptbuch aber sprach:
„Noch eine Lehre geb’ ich dir zu Handen;
Der denk’ an jedem Tage ernstlich nach! –
Die Zahl erkühntest du dich zu verachten?
Du blöder Thor! Begreifst du auch die Zahl?
Das Tiefste, was die höchsten Geister dachten.
Es ist verfaßt, gegründet in der Zahl.
Pythagoras, der Weiseste der Weisen,
Hat schon das tiefe Dunkel aufgehellt,
Und in den Sphären, die das All durchkreisen,
Gilt rings das Wort: „Die Zahl regiert die Welt!“
Wo Ordnung ist und Ebenmaaß und Regel,
Da ist’s die Zahl, die Alles das erschafft;
Im stolzen Tempelbau, im bläh’nden Segel
Spürst du die Zahl und ihre hohe Kraft;
Des Liedes Rhythmus und der Fall der Töne,
Sie sind begriffen in dem Maaß der Zahl,
Und alles Große, Herrliche und Schöne
Begrenzet und bestimmt sich durch die Zahl;
Das Weltall selbst mit jenen tausend Flammen,
Die wunderbar am Sternenhimmel glühn,
Die Zahl fügt es mit ew’ger Kraft zusammen,
Läßt Alles die gewies’nen Bahnen ziehn.
Drum acht’ es nicht gering, der Zahl zu dienen!
Du dienst damit dem Urprinzip der Welt,
Das Alles bindet wie mit eh’rnen Schienen,
Das Alles regelt, ordnet und erhält!“

Ich lauschte noch nach diesen hohen Worten. –
Sie tönten wie vom Himmel mir herab;
Da war es ruhig in mir selbst geworden,
Und um mich tiefe Stille, wie im Grab.
Mir aber war’s, als wär’ ich neu geboren;
Erstaunt sah ich mich um im ganzen Raum,
Und fast schien Alles nur ein wüster Traum;
Doch jedes Wort klang mir noch in die Ohren.

Am Morgen zum gewohnten Tagewerke
Kam ich und schlug das große Hauptbuch auf. –
Mit scheuem Blick, ob ich noch etwas merke
Von meiner Zahlen grauenvollem Lauf.
Doch ruhig standen sie in ihrer Reihe,
Und sah’n vertraut und liebevoll mich an;
Mir war’s, als wär’ mit einer höhern Weihe
Mir des Berufes Arbeit angethan.
Und mit gestärkter Kraft und frischern Sinnen
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.G. H–r.




Das Haus am Meeresstrande.
Eine pommersche Geschichte von Oswald Tiedemann.

Das war ein Sturm, der die Erde aus ihren Angeln heben wollte. Pfeifend und gellend zog es durch die Lüfte, als wäre das Heer der bösen Geister auf der Flucht, als beliebte es dem Himmel, herabzustürzen, mit Einem Schlag ein weites unabsehbares Grab aufzuspalten. Der Blitz übereilte den Donner, der Donner den Blitz, sie trafen zusammen, furchtbar, betäubend. Es loderte in fahlem Lichtschein herauf, herab. – Ein Flammenmeer übergoß Himmel und Erde. Das Gewölk drängte, wälzte sich – ein Gewitterknäul der Wuth, der Finsterniß und der Empörung. –

An einem Abhange, inmitten riesiger Tannen, die wehklagend ihre Aeste in der Gewalt des Sturmes schüttelten, dicht am Strande der Ostsee steht eine Hütte, klein, niedrig, unbeschreiblich elend. Die Wände sind von Sand und Lehm, durch Unwetter zerbröckelt und geschwärzt; das Dach von Brettern, Rasen und Moos; die Fensterluken, kaum groß genug, das Licht herein und den Rauch des Herdes herauszulassen, mit Papier verklebt und mit Netzen verhangen. –

Im Innern sah es nicht minder elend aus. Ein rohgearbeiteter Schrank, Bänke und Tische leicht zusammengeschlagen, nebst zwei Strohlagern in einer anstoßenden Kammer, bildeten das ganze Hausgeräth. Auf den Bänken und an den Wänden lagen und hingen in wirrer Unordnung Fischergeräthschaften und einige Kleidungsstücke im dürftigsten Zustande.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 238b. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_238b.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)