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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

kein angezündetes Licht sehen kann, ohne den Wunsch zu empfinden, es auszublasen. Natürlich kann man dem armen Thiere diese Sympathien nicht zum Verbrechen anrechnen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Die Fledermaus schleppt sich bei Tage nur mühsam von der Stelle, sie fliegt nicht und geht nicht. Natürlich können Soldaten dieser Art nicht in dem Regiment des Fortschritts dienen.

Zur Entschuldigung des systematischen Obscurantismus der Fledermaus wie des Bären, – der ebenfalls kein großer Freund von Licht ist – muß jedoch ein lindernder Umstand von großer Bedeutung hier erwähnt werden. Die Kindheit der Welten war nämlich die Zeit, wo die Fledermäuse herrschten, ebenso wie die Kindheit des Menschengeschlechts die Blüthezeit der Elfen und Kobolde war. Die vorsündfluthliche Geschichte erzählt uns, daß die Fledermaus eins der vollendetsten der damals vorhandenen Thiere war und es scheint, daß in der guten alten Zeit der Schöpfung die Regionen der Luft ausschließlich zwei oder drei gigantischen Fledermäusen angehörten – einer Art Luftschiffen, deren häutige Segel von einer Spitze zur andern zehn bis zwölf Ellen maßen. Diese Muster-Fledermäuse – welche von den Gelehrten Pterodactylen genannt werden, um nicht das Wort Cheiropteren wieder zu gebrauchen, welches aber ganz dasselbe bedeutet – diese Fledermäuse theilten mit dem Bär den Genuß unumschränkter Tyrannei. Ich habe gehört, daß diese gräßlichen Vampyre sich kein Gewissen daraus machten, ein armes Megatherium oder Dinotherium im Schlafe zu überfallen und ihm eine Kleinigkeit von fünfzig Kannen Blut abzuzapfen.




Blätter und Blüthen.

Der Sanguiniker. Wie man vor einem Panorama mit Vergnügen die verschiedenartigsten Gegenden und Naturbilder betrachtet, so gewährt die Musterung der verschiedenen Menschennaturen ein interessantes Schauspiel. Es ist sehr unterhaltend und lehrreich, zu betrachten, wie die Natur die Menschen verschieden gebildet und ausgerüstet hat: den einen beweglich, heftig, energisch; – den andern besonnen, tiefsinnig und ernsthaft. Die Verschiedenartigkeit des Naturells kann man aber oft an den einfachsten Dingen und Vorfällen erkennen. So benehmen sich die Menschen z. B. bei Sterbe- und Trauerfällen sehr verschieden. Der eine still und tief ergriffen, der andere heftig bewegt; ein anderer kalt und theilnahmlos; wieder ein anderer nur äußerlich gerührt, indem er durch viele Worte und übertriebne Klagen das Fehlende zu ersetzen versucht. – Ebenso ist in der Liebe, bei unerwartetem Glück, bei den kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens etc. das äußere Benehmen nicht selten der genaue Gradanzeiger des Temperaments. Wenn z. B. eine Thür nicht zugeht, weil die Feder im Schloß lahm ist und deshalb beim Zumachen die Klinke nicht greifen und einschnappen will, so wird der Eine, nach zwei oder drei vergeblich wiederholten Versuchen, die Thüre zuwerfen, daß sie in den Angeln bebt, ohne daß übrigens dadurch der Zweck besser erreicht würde; das ist der Choleriker. Ein Andrer wird die Sache fünf-, sechsmal probiren und mit Aerger und Verdruß immer noch einmal versuchen, – ohne aber nach dem Grund des Hindernisses zu forschen; er kann nicht begreifen, woher ihm diese Widerwärtigkeit erwächst, aber er vermag’s nicht zu ändern und nimmt sich’s ordentlich zu Herzen; das ist der Melancholiker. Ein Dritter, dem die ganze Geschichte sehr heiter vorkommt, wirft die Thür am Ende auch zu, doch ohne daß er’s ihr weiter nachträgt; das ist der Sanguiniker. An den, welcher bedächtig das Zumachen unzählige Mal wiederholt und forscht und sucht, weil er zu kleinlich ist, jedesmal neben die Scheibe schießt, erkennen wir den Phlegmatiker. Aber erst dem Fünften, dem Vernünftigen, gelingt es sogleich: er sieht mit einem Blick, wo der Fehler liegt, behält den Drücker in der Hand und läßt ihn in’s Schloß fallen; so, jetzt ist die Thür zu. Wer hat ihm das gelehrt? Niemand, es ist Naturgabe. Die Vernünftigkeit ist das fünfte Temperament, von dem wir noch öfter hören werden.

Nun vor Allem zur näheren Betrachtung des sanguinischen Temperaments.

Wenn in stiller Nacht die vollen, tiefen Töne der Nachtigall erschallen, oder an einem schönen Maitag hoch in der Luft die Lerche ihr Lied wirbelt, so daß aus der weiten Entfernung auch nicht eine Note dem lauschenden Ohr verloren geht; – so muß es uns befremden, wie aus solch kleinem Wesen eine Stimme hervordringen kann, die in gar keinem Verhältniß zu ihrem Gewicht und ihrer Körpergröße steht. Vergleichen wir damit die Schallweite der menschlichen Stimme, so hält auch die stärkste mit dem Gesang jener kleinen Vögel keinen Vergleich aus. Ein gewöhnlicher Sänger, der so stark und durchdringend wie eine Lerche singen könnte, würde, wenn er in Karlsruhe sänge, in Darmstadt gehört werden, was eine Entfernung von acht Meilen oder sechzehn Stunden ist. Ein besonders schwerer und wohlgenährter Sänger von 180 bis 200 Pfund Gewicht, könnte sich ungenirt auf den Straßburger Münster stellen und für alle Honoratioren der kleinen und großen Städte der Umgebung bis in die Gegend von Darmstadt ein Concert geben, ohne daß sich Jemand beschweren dürfte, als habe er’s nicht gut hören können. Die Lerche ist kaum zwei Loth schwer und ihre Stimme reicht fünf Minuten weit; also kann Jeder obige Angabe nachrechnen.

Diese merkwürdige Stimmkraft der Vögel muß uns auf die Frage bringen, welches Organ solche Gewalt der Töne hervorbringt. Dies thun die Athmungswerkzeuge. Ohne Lungen giebt es keine Stimme. Die Fische sind stumm; die mangelhaft entwickelten Lungen der Schlangen bringen nur einen zischenden Laut hervor. Der Vogel zeigt zwar nur eine kleine Lunge, allein indem Luftsäcke von hier aus zu den niedern Eingeweiden gehen, um auch diese im Sauerstoff der Luft zu baden und sogar die Knochen (wie z. B. der Oberarm), die mit der Lunge in Berührung stehen, mit Luft zu füllen; – so darf man wohl sagen, daß der Vogel fast ganz Lunge ist und daß er füglich Athmungsthier genannt werden kann. [1]

Kein Thier in der Schöpfung athmet so rasch als der Vogel, und keins verzehrt so viel Sauerstoff. Zwei Sperlinge verzehren unter einer Glasglocke in derselben Zeit ebenso viel Sauerstoff, als ein Kaninchen, das vierzigmal schwerer ist.

Dieser ungeheure Verbrauch von Sauerstoff macht, daß das Blut der Vögel dünner, hochrother und wärmer ist, als selbst das der Säugethiere. Der Puls des Vogels ist deshalb sehr schnell und gleicht dem eines fieberkranken Säugethieres.

Aber wozu hier so viel Naturgeschichte? Weil der Vogel das wahrhafte Bild des Sanguinikers ist.

Der gemeine Mann, welcher die Ähnlichkeit ganz richtig ahnt, ohne sich des Grundes bewußt zu sein, nennt einen lebhaften. leichtsinnigen, vom sanguinischen Temperament beherrschten Menschen einen „losen Vogel“ – „lockern Zeisig“ – „Fitt’ch“ (Fittig, Flügel). Die Hauptzüge des Sanguinikers haben mit dem Wesen des Vogels eine überraschende Ähnlichkeit: Flüchtigkeit, Unbeständigkeit, schneller Wechsel der Zustände, Oberflächlichkeit. Sanguinische Menschen haben, wie die Kinder, das Lachen und Weinen in einem Säckchen und lassen ernste Ermahnungen oder Warnungen zu einem Ohre hinein und zum andern wieder heraus gehen. Wenn ein Vogel heute seiner Brut beraubt wird, so klagt er in den traurigsten Tönen. Aber kaum ist ein Tag vorbei, so hat er Alles vergessen und baut von Neuem sein Nest, viellaicht an derselben Stelle, wo er seine Jungen verloren.

Sanguinische Menschen sind gewöhnlich heiter; nichts macht einen tiefen Eindruck auf sie. Sie haben wenig Anlage zu Gründlichkeit und Charakter; dagegen viel Phantasie und schöpferisches Talent. Wenn der Sanguiniker auf der einen Seite ein heiterer lebensfroher Mensch, ein liebenswürdiger Freund, ein Poet und Künstler werden kann, so kann auch dieses Temperament leichtsinnige,


  1. Eine Gans, der man Nasenlöcher und Schnabel zubindet und den Oberarm durchsägt, athmet durch den Stummel desselben ebenso gut, als durch die Luftröhre.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_077.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)