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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 5. 1854.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Wie ein armer Apotheker doch noch glücklich wurde.

Wahre Geschichte.

Zu Bray, einer kleinen Stadt in der Picardie, sieht man an der Vorderwand der am Marktplatz gelegenen alten Apotheke eine eigenthümliche Schilderei, welche das Haus berühmt gemacht hat und als Wahrzeichen der Stadt gilt. Das Gemälde selbst soll nachher beschrieben werden; vor der Hand genüge, daß sich daran eine sehr romantische und merkwürdige Geschichte kettet, die wir hier mittheilen.

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts lebte in Bray ein reicher und gelahrter Rathsherr, welcher sogar Parlamentsmitglied der Provinz war und Michel d’Aubray hieß. Sein Ehegemahl hatte ihm eine einzige Tochter geschenkt, die sie mit Hülfe ihres Beichtvaters in großer Zucht und Frömmigkeit auferzogen hatten. Aber Madelaine d’Aubray war nicht nur das sittsamste und frömmste, sie war auch das schönste und liebenswürdigste Mädchen der ganzen Stadt, und alle Männer, die über den Markt gingen, machten die Schritte kleiner, wenn sie in die Nähe des hohen steinernen Hauses kamen, welches der Familie d’Aubray seit undenklichen Zeiten gehörte, um die schöne Madelaine am Fenster zu sehen und ehrerbietig zu grüßen. Madelaine dankte aber auf eine Weise, aus der die Herren nichts für sich hoffen durften. Wenn dagegen Niemand vorüber ging, und sie sich unbeobachtet glauben durfte, dann flog ein verstohlener freundlicher Blick über den Markt hinüber nach der Apotheke, wo ihn zuweilen ein junger hübscher Mann aufzufangen so glücklich war und schüchtern erwiederte. Es war dies der Provisor des alten Apothekers d’Ortous, Namens Jacques Senac. Er stammte aus der Normandie, stand erst seit kurzer Zeit in der Apotheke, hatte sich aber das Vertrauen seines Principals bereits in einem so hohen Grade erworben, daß dieser ihm die Besorgung der Apotheke ganz übergeben hatte. Der geschickte Provisor hatte kaum seine schöne und sittsame Nachbarin gegenüber kennen gelernt, als er auch schon sterblich in sie verliebt war. An Gelegenheit, ihr seine Leidenschaft merken zu lassen, fehlte es Herrn Senac keineswegs; denn Madelaine kam fast jeden Tag in die Apotheke, welche, wie zu jener Zeit gebräuchlich war, auch mit Material- und Specerei-Waaren handelte, um für den häuslichen Bedarf kleine Einkäufe zu machen. Man wollte bemerken, daß sie nach Verlauf einiger Wochen sogar öfter in den duftenden Laden kam, als früher. Junge Mädchen, die über das sechszehnte Lebensjahr hinaus sind, haben auch zu allen Zeiten für die Gefühle, Wünsche und Hoffnungen junger Männer eine höchst merkwürdige Divinations-Gabe besessen, und die frommen und sittsamen haben davon keineswegs eine Ausnahme gemacht. Genug, die beiden jungen Leute hüben und drüben am Markte zu Bray wußten bald vortrefflich, wie sie mit einander d’ran waren. Nun war aber Jacques Senac eine der edlen, tiefinnigen nordischen Naturen, die wenig Worte machen, aber ein gewaltiges Gefühl besitzen, und jede Sache mit heiligem Ernst und Eifer angreifen und betreiben. Ein ächter Nachkomme der Normannen und das Gegentheil eines leichtfertigen Franzosen, liebte Senac die schöne Madelaine mit einer an seinem Leben zehrenden Glut und Kraft, und diese Leidenschaft wühlte sich um so tiefer in sein Herz, je weniger er sich davon äußerlich merken lassen durfte. Denn er war blutarm, von geringem Herkommen, ohne Beschützer und Freunde, ein Fremdling in dieser Stadt. In seiner Bescheidenheit dachte er auch gar nicht an die Möglichkeit, die reiche und vornehme Madelaine d’Aubray für sich gewinnen zu können; er war nur selig im Bewußtsein, ihr nicht ganz gleichgültig zu sein, wovon sie ihm nicht selten kleine rührende Beweise gab. Dabei blieb es aber auch; zu einer eigentlichen Erklärung, zu einer heimlichen Zusammenkunft und Unterredung der beiden Liebenden kam es durchaus nicht.

Zu dieser Zeit kehrte der Sohn des reichsten und angesehensten Handlungshauses der Stadt, Philipp Dubois, von Paris zurück, wo er mehre Jahre auf einem der größten Comptoire gearbeitet hatte. Es waren die Zeiten der liederlichen und abscheulichen Regentschaft des nichtswürdigen Herzogs von Orleans, jener acht Jahre, die an Sittenlosigkeit und Lascivität der carikirten Maske der frechsten Heuchelei ihres Gleichen nicht haben in der neusten Geschichte.

Der junge Dubois hatte seine Schule in Paris mit um so größerem Vortheil gemacht da der Minister, welcher denselben Namen führte, einer der verworfensten Menschen, sein Verwandter war, in dessen Hause er stets Zutritt gehabt hatte. Er kehrte als ein vollendeter Wüstling und Heuchler in das Vaterhaus zurück. Auf einem Balle erneuerte der „aimable Roué“ die Bekanntschaft der schönen Madelaine, legte ihr sogleich sein Herz zu Füßen, und traf Veranstaltung, daß sein Vater schon in den nächsten Tagen Rücksprache mit dem alten Rathsherrn wegen einer Verbindung ihrer Kinder nahm. Weder die eine, noch die andere Partei, noch sonst irgend Jemand in der kleinen, vom moralischen Pesthauche des Pariser Lebens noch nicht berührten Stadt hatte eine Ahnung von der Sittenfäulniß des durch sein angenehmes Wesen sich Allen empfehlenden Liebhabers. Es stand ihm also von Seiten der Aeltern der Jungfrau nicht nur kein Hinderniß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_047.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)