Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 309/310 | |
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nicht, daß ich selbst die Wirklichkeit gewesen war. Ich hörte irgend einen Klang verstummen, aber ich horchte wohl, von einer Wallung umfangen, nur mit halbem Ohre hin. Mir war’s, als hätte ich den Einsatz meiner Kraft verspielt, doch der Schlaf lag mir noch auf den Lidern, nun bin ich erwacht und meine Schwäche ist verflogen. Ich denke sogar mit Genugtuung daran, wie gleichgültig mir der Freund geworden ist. Eine meiner Launen hat ihm einen bösen Streich gespielt, darum bemüht er sich jetzt, wie ich weiß, vergebens, den Anlaß zu unserer Entfremdung zu finden. Ich ärgerte mich vielleicht über den Ausdruck seines Gesichtes, oder es verriet mir plötzlich ein Augenzwinkern die Distanz, um die ich mich in der Zwischenzeit von ihm entfernt hatte. Wie dem auch sei, an die Marschroute, die ich mir selbst vorschrieb, bin ich gebunden. Sind doch seit jeher meine Launen das Einzige, das mich zur Pflicht gemahnt, denn ich mache sie mir zur Pflicht. Ängstlich bin ich bestrebt, jeder einzelnen zu Willen zu sein, und selbst meine Gefühle gehorchen da aufs Wort. Vor ihnen habe ich Respekt, denn sie allein lassen mich an die Macht des Schöpferischen glauben. Wohl hielt ich unsere Freundschaft für unzerstörbar, da ich sie aber einer Laune opferte, erweist sich mir das, was mich als Ohnmacht schreckte, als eine Probe meiner Macht. Ich werde mir wollüstig bewußt, daß eine leise Regung meines Willens dem Tode gewachsen ist. Ihm trotzte die Freundschaft, war sie doch unser Widerschein, den nun ein Hauch des Gedankens für immer erlöschen machte. Ich enttäuschte ein Vertrauen, das selbst der Ewigkeit gespottet hätte, denn es entsprang einer Harmonie; aber an meiner flüchtigsten Laune wurde es zuschanden.
Und doch, da mich dieses Bewußtsein mit unerhörter Freude, mit grimmiger Sicherheit erfüllt, entsinne ich mich dessen, was war, und ich werde wieder irre. Da bin ich nervös und rebellisch, als gelte es, eine Drohung abzuwehren, die ich nicht kenne, sondern nur dumpf, als Ahnung empfinde. Was zwingt mich jetzt, mir die Züge deines Antlitzes vorzustellen? Sie sind verzerrt, aber mich dünkt, ich hätte sie entstellt. Mit einmal scheinen sie mir wieder liebenswert zu sein. Doch es ist nur ein flüchtiges Erinnern, das mich täuscht und verwirrt! Nein, ich ertappe mich dabei, wie ich’s zum Vorwand nehme, weil mir ein Widerspruch befiehlt, das
Karl Kraus (Hrsg.): Die Fackel Nr. 309/310. Die Fackel, Wien 1910, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Fackel_Nr._309%E2%80%93310.djvu/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)