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Thietmar von Merseburg: Die Chronik des Thietmar von Merseburg

Merseburg, kenntest du ganz die Wünsche alle, die frommen,
Die für dich das Herz des erhabenen Fürsten erfüllen,
Immer und immer sehntest du dich nach der Nähe des Theuren,
Priesest die Gaben des Herrn, die reichen, und lohntest ihm dankbar.

1. Der reiche Strom der göttlichen Liebe, welche stets die menschliche Bedürftigkeit berücksichtigt und ihre Gaben nicht nach unserm Verdienst uns zumißt, sondern aus reiner Güte von Erweisungen der Barmherzigkeit überfließt, entzündet die Herzen der Gläubigen, dem Allgütigen inbrünstig Preis und Dank darzubringen. Seine Liebe aber treibt auch mich, obwohl ich beschränkten Geistes, holprich in der Rede, in allem nachlässig und gar zu träge bin, den Tugendhaften hierin nachzuahmen. Denn – wie David[1] bezeugt – der Herr ist groß und hoch zu loben; seiner Weisheit wird kein Maß erfunden, er hat in dieser seiner Weisheit alles aus nichts gemacht, und wir Menschen sind auch so gemacht.[2] Wer dies alles der Wohlthaten Gottes eingedenk nicht erwägt, der wird mit Recht ein Vieh genannt, das in seinem Miste verfault. Wer aber jenes Wort: ΓΝΩΘI ΣEAYTON! „Erkenne dich selbst!“ welches vor Alters über der Schwelle des Tempels geschrieben stand[3], in seinem Herzen zu bewahren, und nach St. Pauls Ermahnung [Kol. 3, 17] alles, was er thut mit Worten oder mit Werken, im Namen unsers Herrn Christus zu thun trachtet, der wird von Gott in seiner Vatergüte als zu seinem Kinde erwählt und empfängt, ob er gleich spät komme, doch seinen Groschen zum Tagelohn. [Matth. 20.] Indem ich dies bedenke, sehe ich, weil ich der heiligen Dreieinigkeit und der untheilbaren Einheit Gottes auf eine würdige Art durchaus nicht zu entsprechen vermag, auf meinen Knieen den heiligen Johannes den Täufer um seine Fürbitte an, auf daß ich an Körper und Geist zu meinem Vorhaben fähig gemacht werde. Ueber diesen

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Thietmar von Merseburg: Die Chronik des Thietmar von Merseburg. Verlag von Franz Duncker, Leipzig 1879, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Chronik_des_Thietmar_von_Merseburg.pdf/169&oldid=- (Version vom 21.2.2023)
  1. Vgl. Psalm 96, 4.
  2. Vgl. Makkab. II. 7, 27.
  3. Macrobius (Saturnal. I, 6) erzählt, der Tempel des Apollo zu Delphi habe diese Inschrift getragen. Thietmar verstand jedoch nicht Griechisch und in seiner Handschrift steht: Gnoti seaucton.