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Venusjahr Nahrung zu sich und das geschah folgendermaßen:

Es wuchsen ihnen plötzlich die Haare ihres Körpers länger und daraus ersahen sie, daß sie Hunger hatten; fühlen taten sie den Hunger keineswegs. Nun wuchsen die Haare plötzlich in die kautschukartige Venushaut hinein – und wuchsen in der Haut sehr schnell in einigen Stunden mehrere tausend Meter tief ins Innere des Sterns hinein. Und in diesem Innern des Sterns sogen die Haare, die allerfeinste Röhren darstellten, den Nahrungsstoff auf und führten ihn dem auf der Haut des Sterns liegenden Körper zu. Hatte dieser genug, so gingen die Haare entzwei und der Gesättigte konnte wieder davonlaufen.

Hätten nun die Schildkrötenartigen die ganze Sternseite mit ihren Körpern bedeckt, so hätten natürlich die Beweglichen keinen Platz gehabt, Nahrung aufzunehmen. Aber so schlimm war’s nicht; so viel Schildkröten konnten gar nicht entstehen, da die Venushaut doch eine ungeheure Fläche repräsentierte.

Nur zum Spazierengehen und zum Laufen fehlte der Platz auf der Halbkugeloberfläche; zum Nahrungaufnehmen langte diese Oberfläche in jedem Falle; die Schildkröten waren sonst sehr gutmütig und hätten auch den Zwanzigarmigen gerne durch Aufeinanderlagerung Platz gemacht, wenn dieser nur zum ruhigen Nahrungsaufnehmen verwendet werden sollte: nur für Lauferei und Springerei hatten die Ruhigen nicht das geringste Verständnis – alle Unruhe störte ja die ruhige philosophische Spekulation, die das Leben der Schildkröten ganz und gar erfüllte.

Doch Knax, der Weise, ließ nicht nach, über den Bewegungsfreiheitsmangel in reichlichem Maße täglich nachzudenken und kam eines Tages zu folgendem Einfall und zu folgender Rede:

„Lebensgenossen auf der Venushaut! Wie ihr alle wißt, haben wir auf unserer Sternseite unzählige[WS 1] Krater, aus denen von Zeit zu Zeit ganz heiße Luft herauspufft, die mit gewaltiger Geschwindigkeit zum Himmel emporsteigt und dort nutzlos am kalten Aether sich wieder erkältet. Könnten wir diese heiße, sehr leichte Kraterluft nicht als Luftballonträger verwerten? Und könnten wir uns dann nicht auf diesen Luftballons die nötige Bewegungsfreiheit schaffen? Wie denkt ihr darüber?“

„Ach was! Was werden wir darüber weiter nachdenken! Wir werden sofort aus unserer Sternhaut, die sich zu Ballonzwecken trefflich eignet, die nötigen Ballonhüllen herausschneiden.“

Also antwortete man dem weisen Knax.

Und die Idee fand solchen Anklang, daß man ganz vergaß, dem weisen Knax für seinen Einfall zu danken! Mit der größten Schnelligkeit gingen alle Zwanzigarmigen an die Arbeit, die Schildkröten machten, als sie von dem Plan hörten, gerne Platz – und halfen auch beim Hautaufschneiden.

Heller Jubel scholl über die helle Venushaut und dem weisen Knax drückte man bald danach so eifrig voll Dankgefühl die Hände, daß ihm diese anschwollen und sehr weh taten.

„Die Dankbarkeit ist auch nicht leicht zu ertragen!“ rief er lachend.

Doch die Ballons über den Kratern wölbten sich bald himmelhoch empor.

An Stricken, die an der Ballonhaut befestigt wurden, kletterten die Beweglichen mit Bequemlichkeit hinauf und hinunter.

Indessen – viele Ballonhäute spannten sich bald ganz kugelrund und so fest, daß die Haut ganz glatt wurde und nicht leicht auf ihr zu laufen war.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: unzähige
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Paul Scheerbart: Die neue Oberwelt. Die Aktion, Berlin 1911, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Aktion_1911_55.png&oldid=- (Version vom 17.1.2018)