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Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495

die Gruft einer eingehenden Besichtigung unterzogen wäre, selbst dann mich nur als Betrüger haben entlarven können, wenn er eben auf die Idee gekommen wäre, den mit Teppichen belegten Bretterboden des Grabes sich genauer anzusehen, diesen Bretterboden, aus dem auch meine Geschicklichkeit nicht so schnell die runde Spur der Stichsäge und damit den Hinweis auf den darunter befindlichen Schacht nach dem Kanalisationsrohr entfernen konnte. Nur die Furcht vor dieser Entdeckung hat mir heute ein Geständnis abgezwungen, das mir mit seinen für mich noch gar nicht zu überschauenden Folgen wahrlich nicht leicht geworden ist, besonders deswegen nicht, weil mein bis in die kleinsten Kleinigkeiten so sein ausgearbeiteter Plan auch die in der Nacht vor der Beendigung des Fakirexperiments notwendige Beseitigung aller verräterischen Hindeutungen auf die Lösung meiner Geheimnisse durch Einfügen neuer Bretter an Stelle der durchsägten und durch Ausfüllen der beiden Schächte vorgesehen hatte. Wären Sie nicht als mein Verhängnis dazwischengetreten, mein Fräulein, der Impresario Franklin Houster hätte sicherlich unangefochten mit einem glänzenden Gewinn den Staub Clevelands von seinen Füßen schütteln und in Pittsburg ohne Vollbart und ohne diese gräßliche graue Riesenbrille bei seinem früheren Chef W. Hawkens wieder als der Ingenieur Hannibal Shelders auftauchen können.

Weiter habe ich den Herrschaften nichts zu offenbaren. Höchstens noch die eine bittere Wahrheit als Bemerkung so ganz nebenbei, daß mein Schicksal wirklich an einem seidenen Fädchen hing, und daß auch der weitsichtigste Mann in sein Verderben stolpern –“

„Verderben ist gut!“ unterbrach ihn der alte Somgrave mit behaglichem Schmunzeln und einem Blick, der die schlanke Gestalt Hannibal Shelders beinahe zärtlich umfaßte. „Ich glaube im Gegenteil, mein Lieber, daß dieses Seidenfädchen von dem Sonnenschirm meiner Tochter Ihnen sehr viel Glück bringen wird, falls Sie eben klug genug sind, auf meine Vorschläge einzugehen. – Vorhin, als Sie zum ersten Male das Schlafpulver erwähnten, mit dem Sie Ihren famosen Fakir für den Schlaf empfänglich gemacht haben, ist mir nämlich eine sehr aussichtsvolle Idee gekommen. Ich besitze in New York eine chemische Fabrik, und kürzlich haben da meine Herren Chemiker ein neues, für unsere heute so überaus nervöse Menschheit geradezu unentbehrliches Medikament zusammengebraut, das seinen bereits vielfach erprobten Wirkungen nach eine großartige Neuerung darstellt. Aber ohne eine Riesenreklame ist mit einem solchen Präparat kein Geschäft zu machen, das wissen Sie ja auch! Und zu dieser Riesenreklame sollen eben Sie mir verhelfen! Etwas wirklich noch nie Dagewesenes soll es werden, etwas, wovon die ganze amerikanische Presse notwendig Notiz nehmen muß, etwas, das einen wahren Sturm hier in Cleveland und im ganzen Osten der Vereinigten Staaten entfachen, worüber die Gassenjungen auf der Straße und der Millionär in seinem Palast mit demselben beifälligen Lachen sprechen wird! Ein echt amerikanisches Geniestückchen habe ich mir da ausgesonnen, und ich will es mich auch eine gehörige Stange Geld kosten lassen, da ich unsere Verhältnisse hier gut genug kenne, um mit einer lohnenden Verzinsung der aufgewendeten Gelder bestimmt rechnen zu können! Passen Sie auf, mein Bester, wir beide werden durch das Fakirschlafpulver unser Schäfchen schon ins trockene bringen – kein Schäfchen, wett’ ich, sondern einen ganz gehörigen Hammel!“

Percy Somgrave hatte sich in eine wahre Begeisterung hineingeredet, wurde jetzt aber durch einen kühl geschäftsmäßigen Einwurf des jungen Ingenieurs ziemlich stark ernüchtert.

„Freuen Sie sich nicht zu früh! Bevor ich die Einzelheiten Ihres Planes nicht kenne und nicht weiß, wie meine Beteiligung am Gewinn geregelt werden soll, gehe ich auf nichts ein!“

„Allerhand Achtung, junger Mann!“ meinte der Millionär, nachdem er sich von diesem kalten Wasserstrahl etwas erholt hatte. „Das muß man Ihnen lassen: bescheiden oder ängstlich treten Sie nicht auf, trotzdem Sie doch alle Ursache hätten, mir möglichst entgegenzukommen. – Aber dieser – na, sagen wir stark ausgeprägte Geschäftsinn stört mich gar nicht! Im Gegenteil – Sie gefallen mir immer besser.“

Nun entwickelte er dem immer erstaunter aufhorchenden Shelders die Idee zu der beabsichtigten Riesenreklame in kurzen Worten, in einer so scharf durchdachten Art und Weise, daß der doch wirklich mehr als gerissene Ingenieur sich eingestehen mußte, hier einen völlig ebenbürtigen Kompagnon gefunden zu haben.

„Also, wie gesagt, Shelders,“ schloß Somgrave jetzt immer vertraulicher werdend seine Ausführungen, „ich trage die ganzen Unkosten und ebenso den Verlust der dreißigtausend Dollar, die Sie auf der hiesigen Unionbank deponieren mußten als Reugeld für den Fall, daß Tuma Rasantasenas Experiment sich als Humbug herausstellt. Dafür treten Sie als Geschäftsführer mit einem Anfangsgehalt von fünfzehntausend Dollar jährlich in meine chemische Fabrik ein und erhalten außerdem für Ihre Einwilligung in meine Vorschläge eine einmalige Abfindung von hunderttausend Dollar. Ich meine, damit können Sie wohl zufrieden sein! – Und alle die Drucksachen, die wir ja notwendig gebrauchen, lasse ich nun schleunigst von meinen Angestellten in New York, auf deren Verschwiegenheit ich bestimmt rechnen kann, anfertigen, und nachher auch an Ort und Stelle derart verteilen, daß unser schönes Plänchen nicht vorzeitig verraten wird. – Hand her, Mann! Schlagen Sie ein!“

Und Hannibal Shelders zögerte jetzt keine Sekunde mehr.

***

Eine Woche später gegen elf Uhr vormittags war der Fakirpavillon in der Gewerbeausstellung zu Cleveland wieder von einer neugierigen Menge bis auf den letzten Platz gefüllt. Sollte doch heute der Indier aus seinem nunmehr sieben Wochen andauernden Schlafzustand erweckt werden.

Die Beobachtungskommission erschien. Doch vergebens schaute sich Professor Weasler suchend nach dem Impresario Franklin Houster um. Man wartete fünf Minuten, man wartete zehn Minuten – kein Impresario ließ sich sehen. Das Publikum wurde ungeduldig. Man schickte einen Eilboten nach dem anderen, alle kamen unverrichteter Sache zurück, von dem Gesuchten hatten sie keine Spur entdecken können.

Professor Weasler bespricht sich flüsternd mit den anderen Herren der Kommission. Dann gibt er den Arbeitern ein Zeichen, und langsam schwebt der Glassarg aus der Gruft zum Tageslicht empor. Das Publikum drängt näher heran, schiebt und stößt sich hin und her, nur um den berühmten Fakir jetzt einmal ganz aus der Nähe betrachten zu können. Und dann – niemand weiß, wer’s zuerst ausgerufen hat, dann klingt’s immer lauter, vermischt mit höhnischem Gelächter: „Eine Wachspuppe – eine Wachspuppe – gar kein Mensch – Schwindel – Humbug!“

Mit zitternden Händen prüft der von alledem ganz fassungslose Weasler die Siegel an dem Sarge. Sie sind unverletzt – kein Zweifel! Eiligst schraubt man den Sargdeckel ab, und sofort reißt eine vorwitzige Hand mit einem Ruck den hellen Burnus von der regungslosen Gestalt. Das Lachen wird plötzlich zu einem Brüllen, alles schreit durcheinander, fuchtelt mit den Armen in der Luft umher, denn in dem Sarge liegt in der Tat nichts als eine starre Gliederpuppe, zwei braune Wachshände und ein Wachskopf, der allerdings vollkommen dem des Originals gleicht.

Am Nachmittag spricht man in ganz Cleveland von nichts anderem als dieser überraschenden, unerklärlichen Auffindung der Wachspuppe in dem Fakirsarge. In den Restaurants, den Kaffeehäusern und Geschäften, auf den Straßen und Plätzen der Stadt, ganz besonders aber auf den Promenaden der Ausstellung und vor dem Fakirpavillon sieht man dichte Gruppen von Leuten umherstehen, die lebhaft dieses geradezu unglaubliche, sensationelle Ereignis nach allen Seiten hin erörtern. Wie mag wohl die Gliederpuppe mit dem so täuschend ähnlichen Wachskopf in den Glassarg gelangt sein, in denselben Glassarg, in dem noch vor acht Tagen ganz zweifellos der lebende Tuma Rasantasena gelegen hat? Weshalb, zu welchen Zwecken mag man den wirklichen Fakir überhaupt gegen die Wachsfigur eingetauscht haben? Wo ist der Impresario geblieben, der noch gestern mit den Herren des Ausstellungsdirektoriums über einzelne Anordnungen für die bevorstehende Erweckung des Indiers verhandelt hat? Und schließlich – wo ist Rasantasena selbst hingeraten? – Das sind alles Fragen, die niemand beantworten kann, Fragen, die um so verwickelter und unerklärlicher werden, je mehr Einzelheiten über die Resultate der sofort von der Überwachungskommission in dieser Angelegenheit aufgenommenen Untersuchung bekannt werden.

Unverzüglich hat man nämlich die Gruft und den Pavillon aufs sorgfältigste nach einem geheimen Zugang durchforscht, hat sogar den Fußboden und den Bretterbelag der Seitenwände der Grube abgerissen, hat die Wächter den umständlichsten Verhören unterzogen – alles vergeblich, alles! Nirgends ein Anhaltspunkt, der auch nur im entferntesten auf eine Erklärung dieser geheimnisvollen Geschehnisse hingedeutet hätte.

Inzwischen ist es fünf Uhr nachmittags geworden. Halb Cleveland ist jetzt in der Gewerbeausstellung versammelt, und vor dem Fakirpavillon herrscht ein geradezu lebensgefährliches Gedränge. Mit einem Male hört man in den dichten Menschenmassen hie und da schrille Knabenstimmen, die irgend ein Extrablatt ausrufen. Eine seltsame Bewegung kommt ebenso plötzlich in die Menge, und um jeden der in der Tracht der Messengerboys gekleideten Jungen, die ein dickes Paket großer Zettel unter dem Arm halten, ballt sich ein unentwirrbarer Menschenhaufe zusammen. Man reißt sich um diese Zettel, überfliegt den Inhalt, schüttelt erst ungläubig den Kopf, liest nochmals langsamer und genauer – und lacht dann aus vollem Halse, schreit dem Nachbar ganz begeistert zu: „Was sagen Sie nur – das ist doch einmal wieder eine smarte Reklame! Wirklich ein Teufelskerl, dieser Somgrave mit seinem Fakirschlafpulver!“

Auch der arme Professor Weasler, der bei all den Aufregungen und besonders aus Angst vor einer mehr wie peinlichen Bloßstellung seiner Gelehrtenwürde durch diesen unseligen Indier kaum mehr weiß, wo ihm der Kopf steht, hat endlich eines der Blätter erhascht. In roten Riesenlettern steht darauf: „Somgraves Fakirschlafpulver ist das allerbeste der ganzen Welt, was die untenstehende Aufdeckung der Geheimnisse des Fakirpavillons der Gewerbeausstellung zu Cleveland untrüglich beweist.“

Dem unglücklichen Professor beginnen die Kniee zu zittern. Er ahnt Furchtbares, ahnt, daß die ganze Beobachtungskommission blamiert, unsterblich blamiert ist, hauptsächlich aber er selbst, der noch vor einer Woche so warm, mit so zündender Beredsamkeit für die völlige Unanfechtbarkeit des Experimentes Tuma Rasantasenas gesprochen hat. Mit bebenden Händen liest er jetzt weiter, liest, während ihm Schweißperlen auf die Stirn treten, liest all das, was Hannibal Shelders damals dem alten Somgrave und dessen Tochter über die Ausführung seiner genialen Fakirkomödie gebeichtet hat. Nur des Impresarios wahrer Name ist in dieser äußerst packend geschriebenen Schilderung nicht genannt, ebenso sind auch alle Angaben vorsichtig weggelassen, die zu einer Entdeckung seiner Person führen könnten. Doch in einem Punkte haben die Tatsachen auf diesem Extrablatt allerdings eine völlige Umwandlung erfahren: alles ist so dargestellt, als ob Rasantasenas tiefer Schlaf, durch den sich so viele und bedeutende Ärzte täuschen ließen, lediglich durch „das völlig unschädliche, für jeden an nervöser Schlaflosigkeit Leidenden unentbehrliche“ Somgravesche Präparat herbeigeführt wurde, und das ganze Auftreten des Indiers von vornherein nur der Reklame für das Fakirschlafpulver dienen, und das Experiment auch zweckentsprechend den jetzigen Abschluß finden sollte.

Während Professor Weasler noch in dumpfem Brüten auf diese Zeilen hinstarrt, die ihm die Unzulänglichkeit des eigenen Wissens und die Überlegenheit des geistvollen, waghalsigen Impresarios unangenehm klar zum Bewußtsein bringen, legt sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Erschreckt aufblickend erkennt er einen seiner Kollegen von der Universität, der ebenfalls zu der Überwachungskommission gehörte.

„Aber Weasler – welches Gesicht! Haben Sie denn als Amerikaner wirklich gar kein Verständnis für den Witz dieser Geschichte?“ ruft Doktor Morton gutgelaunt. „Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, als ich dieses Reklameblatt gelesen und damit des Rätsels Lösung endlich gefunden hatte, da habe ich wie befreit hell aufgelacht! Sagen Sie doch selbst, Weasler: können wir nicht eigentlich stolz darauf sein, daß unser schönes, freies Land Genies hervorbringt, die zur Erreichung ihrer geschäftlichen Ziele einen derartigem geradezu kunstvoll ausgeklügelten Reklamefeldzug ins Werk zu setzen wissen?! Fraglos wird ganz Amerika ebenso denken wie ich! Dafür sind wir ja Amerikaner! Deshalb wird es auch hier niemand einfallen, uns Professoren als die bei dem interessanten Experiment mit ihrer Kathederweisheit Hereingefallenen zu verhöhnen, oder etwa diesen Herrn Perey Somgrave, der mit seinem Fakirschlafpulver jetzt einen Bombenverdienst haben wird, irgendwie zur Rechenschaft zu ziehen!“

***

Mit diesen seinen Behauptungen behielt Doktor Morton vollkommen recht.

Ein halbes Jahr später konnte der alte Somgrave bei einem glänzenden Festmahl in seinem palastartigen Hause in New York die Verlobung seines einzigen Kindes Viktoria mit dem Ingenieur Hannibal Shelders seinen Gästen bekanntgeben. In der humorvollen Ansprache, die er bei dieser Gelegenheit hielt, kam auch ein Satz vor, der der jungen Braut die heiße Röte in die Wangen trieb.

Dieser Satz lautete: „Mein Töchterchen wollte seinerzeit einmal einen gewissen Impresario Franklin Houster durchaus mit Hilfe eines Seidenfädchens ins Verderben stürzen, und nun hat sie sich selbst durch dieses selbe Seidenfädchen für immer an den Mann – mit dem unausstehlichen ironischen Lächeln gefesselt!“


Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_schlafende_Fakir.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)