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Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495

gelegenen Häuschen, das niemand anders als Franklin Houster für die Zeit seines Aufenthaltes in Cleveland gemietet hatte. Dem Auto entstiegen Somgrave und seine Tochter, letztere mit hochgeröteten Wangen und in einer Hast, die man an der eleganten jungen Dame sonst nicht beobachten konnte. Wenige Minuten später standen die beiden Besucher dem Impresario in dessen Arbeitszimmer gegenüber.

„Womit kann ich den Herrschaften dienen?“ fragte Houster höflich und warf nochmals nachsinnend einen Blick auf die beiden Visitenkarten, die ihm von dem alten Somgrave überreicht worden waren, als er den Besuchern höchst eigenhändig die Haustür geöffnet hatte.

Vicky trat schnell einen Schritt vor. „Mein Vater und ich möchten Sie nur fragen, ob Sie uns freiwillig mitteilen wollen, wie Sie diesen Betrug mit dem angeblich schlafenden Fakir bewerkstelligen?“

Der Impresario zuckte leicht zusammen. „Betrug?! – Sie belieben zu scherzen,“ sagte er langsam, und seine Augen musterten dabei prüfend die Erscheinung des jungen Mädchens, das ihn offenbar durch diesen unvorbereiteten Angriff außer Fassung zu bringen gehofft hatte.

„Nichts liegt uns ferner!“ entgegnete Vicky. „Bitte, eine Antwort, mein Herr! Wollen Sie uns Ihr Spiel aufdecken oder nicht?“

Der Impresario lehnte sich seelenruhig an den Schreibtisch und kreuzte die Arme über der Brust. „Sie würden mich zu größtem Danke verpflichten, mein Fräulein, wenn Sie mir erklären wollten, was dieser ganze Auftritt eigentlich bedeuten soll. Sie sprechen hier von Betrug, und scheinen gar nicht daran zu denken, daß unsere Strafgesetze eine Beleidigung auch dann ahnden, wenn sie von so schönen Lippen kommt.“

„Die Strafgesetze haben Sie selbst zu fürchten, nicht ich! Und wenn Sie weiter auf Ihrer Weigerung beharren, so werden wir von hier aus direkt zu Professor Weasler fahren und ihm erzählen, welche Beobachtung wir heute vormittag in dem Fakirpavillon gemacht haben.“

Wieder ruhte jetzt Housters Blick durchdringend auf dem gerade in der Erregung so anziehenden Gesicht seiner hartnäckigen Gegnerin. Dann antwortete er, sich leicht verbeugend: „Bitte, ich hindere die Herrschaften gewiß nicht daran. Professor Weasler wohnt Ohioplatz 24.“

„Professor Weasler wird es fraglos sehr interessant sein, zu erfahren, daß heute vor acht Tagen ein weißer Seidenfaden auf dem hellen Burnus Tuma Rasantasenas gelegen hat, als der Sarg nach der Untersuchung durch die Beobachtungskommission wieder in die Gruft hinabgelassen wurde, und daß dieses Seidenfädchen merkwürdigerweise heute nicht mehr da war, wie mein Vater und ich festzustellen Gelegenheit hatten. – Wollen Sie mir vielleicht darüber Aufklärung geben, mein Herr, wie es möglich ist, daß dieser weiße Seidenfaden inzwischen aus dem angeblich festverschlossenen Glassarge verschwinden konnte?“

In Franklin Housters Antlitz verriet auch nicht das geringste Zucken die wilde Jagd seiner Gedanken. „Mein Fräulein, ich verstehe Sie wirklich nicht,“ sagte er, anscheinend noch immer ganz ruhig. Und doch hatte er sich nicht so gut in der Gewalt, um das leise Zittern in seiner Stimme unterdrücken zu können.

„Dann muß ich also noch deutlicher werden. Hier – betrachten Sie sich einmal diesen weißseidenen Sonnenschirm, mein Herr. Ihn trug ich in der Hand, als wir, mein Vater und ich, vor einer Woche als Zuschauer der ersten Öffnung von Tuma Rasantasenas Sarg beiwohnten. Während des etwas sehr langatmigen Vortrags Professor Weaslers spielte ich ganz absichtslos mit dieser weißseidenen Schleife hier oben am Schirmstock. Dabei löste sich ein kurzer Seidenfaden ab, den ich dann fortwerfen wollte, und den ein Zufall auf des Fakirs hellen Burnus ganz dicht an der Stelle, wo die rechte Hand unter dem Gewande hervorragte, niederfallen ließ, wie ich genau beobachtet habe. Bald darauf wurde der Sarg wieder geschlossen und versiegelt. Das seidene Fädchen aber blieb unbeachtet liegen. – Haben Sie mir bis jetzt folgen können?“ fügte sie mit siegesgewissem Spott hinzu.

Der Impresario nickte nur kurz, beinahe ungeduldig, und starrte dann mit finster zusammengezogenen Brauen vor sich hin, hörte kaum noch auf das, was Viktoria Somgrave weiter sprach, wie sein ironisches Lächeln ihren Verdacht zuerst wachgerufen hätte, und wie ihr dann plötzlich der Gedanke gekommen wäre, daß das seidene Fädchen ihr ja den sichersten Beweis liefern könne, ob der Fakir wirklich auch des Nachts völlig bewegungslos in seinem gläsernen Gefängnis verharre oder ob er, wie sie stets vermutet hätte, seinen tiefen Schlaf nur heuchele.

Franklin Houster gab sein Spiel bereits verloren. Was half es ihm, wenn er weiter zu leugnen versuchte? Professor Weasler würde die Bedeutung dieses aus dem versiegelten Sarge verschwundenen Seidenfadens ebensogut einzuschätzen wissen wie er selbst, würde sicherlich eine genaue Untersuchung des Sarges und fraglos auch der Gruft vornehmen, und dann – – Immer weiter spannen des Impresarios gehetzte Gedanken die Folgen einer Entdeckung seiner Geheimnisse aus. Ja, gab es denn kein Mittel für ihn, dieses Unheil noch abzuwenden, sollte er um den ganzen Erfolg dieses so fein ausgeklügelten Unternehmens gebracht werden?!

„Antwort, mein Herr! Tuma Rasantasena muß zum mindesten den rechten Arm bewegt und sich dabei den Seidenfaden abgestreift haben! Sprechen Sie doch! Noch eine Minute gebe ich Ihnen Zeit! Dann soll Professor Weasler das noch heute erfahren, was ich Ihnen soeben mitgeteilt habe!“

Franklin Houster schaute erst Viktoria Somgrave, dann ihren Vater mit einem verächtlichen Blick an und sagte dann kalt: „Diese ganze Geschichte läuft doch nur auf eine Erpressung hinaus! Gut – ich will Ihnen fünfundzwanzigtausend Dollars zahlen, wenn Sie schweigen. Das Geld steht Ihnen sofort zur Verfügung.“

Vickys Gesicht färbte sich dunkelrot. Sie zitterte am ganzen Körper. „Herr, das wagen Sie uns zu bieten – uns!“ rief sie in höchster Entrüstung. „Wissen Sie auch, wen Sie hier vor sich haben? – Pa, sage du doch diesem Herrn deine Meinung! Erpresser sollen wir sein!“

„Meine Meinung, Kind,“ erwiderte der alte Somgrave achselzuckend, „ist, daß Herr Houster bei diesem Überfall die äußerste Kaltblütigkeit gezeigt hat, besonders jetzt – Eigenschaften, die jeder notwendig besitzen muß, der es heutzutage vorwärtsbringen will.“

Vicky war zuerst sprachlos. Dann aber kam es ihr mit einem Male zum Bewußtsein, wie unweiblich eigentlich ihr ganzes Verhalten bisher gewesen war, und wie der Impresario tatsächlich nur auf die Vermutung kommen konnte, daß sie sich ihr Schweigen bezahlen lassen wollte. Etwas unsicher sagte sie jetzt: „Sie irren, mein Herr, uns liegt nichts an Ihrem Gelde. Was mich Sie aufsuchen ließ, war allein der Ehrgeiz, als erste von Ihnen zu erfahren, auf welche Weise der Seidenfaden aus dem Glassarge des Indiers verschwinden konnte.“

Der Impresario schwieg.

„Komm, Pa – gehen wir! Das letzte Wort in dieser Sache wird also jetzt die Beobachtungskommission sprechen.“

Houster riß plötzlich aus einer Schublade des Schreibtisches eine Pistole heraus und kam jetzt langsam auf Vicky zu, die Waffe in der herunterhängenden rechten Hand haltend. Dicht vor ihr stehen bleibend, sagte er mit seiner alten, überlegenen Ruhe: „Ich weiß nicht, mein Fräulein, ob Ihr Gewissen derart veranlagt ist, daß es sich leicht mit einem – Mord abfinden wird. Ich gebe Ihnen nämlich mein Wort darauf: verlassen Sie und Ihr Vater jetzt dieses Zimmer, ohne mir vorher die feste Zusicherung gegeben zu haben, Ihre Beobachtung hinsichtlich des aus dem Sarge Rasantasenas verschwundenen Seidenfädchens für sich zu behalten, so werde ich mich in demselben Moment erschießen, in dem Sie jene Tür da hinter sich ins Schloß ziehen. Also wählen Sie! Bevor Sie aber eine Entscheidung treffen, sollen Sie die ganze Wahrheit über Tuma Rasantasena hören. Bitte, nehmen Sie Platz. Meine Erzählung dürfte längere Zeit in Anspruch nehmen.“

Herr Somgrave, dessen strenge Züge immer freundlicher wurden, machte es sich ohne langes Bedenken in dem nächsten Stuhl bequem, und indem er gemütlich ein Bein über das andere schlug, sagte er: „Legen Sie getrost das Mordinstrument beiseite! Sie gefallen mir! – Bitte, Vicky, geniere dich nicht. So staubig wird dieser Korbsessel wohl nicht sein, um der Rückfront deiner Sommertoilette zu schaden!“

Franklin Houster atmete erleichtert auf. Die Gewitterwolken, die noch vor einem Augenblick so unheimlich drohend über ihm geschwebt hatten, verzogen sich offenbar, und Percy Somgraves Antlitz war wie die Sonne, die das finstere Gewölk mit friedeverkündenden Strahlen durchbricht. Auch Vicky setzte sich, Houster legte die Pistole in die Schublade zurück und begann dann, nachdem der vorläufige Frieden derart eingeleitet war, zu sprechen.

„Zunächst möchte ich mich den Herrschaften mit meinem richtigen Namen vorstellen: Hannibal Shelders, Ingenieur der Firma W. Hawkens in Pittsburg, Wasserleitungs- und Kanalisationsanlagen. Ich bitte zu beachten – Kanalisationsanlagen, denn das ist wichtig für das folgende. Dieser Hannibal Shelders nun saß an einem der ersten Apriltage unseres gesegneten Jahres in dem Bureau von W. Hawkens in Pittsburg an seinem großen Arbeitstisch und hatte vor sich eine Zeichnung der Kanalisationsanlagen von Cleveland liegen, die seine Firma im Jahre 1891 ausgeführt hatte. Er studierte diese Zeichnung lediglich zu dem Zweck, um seine praktischen Kenntnisse in seinem Beruf zu erweitern. Neben mir – Hannibal Shelders und ich sind ja eins – hatte ich einen Situationsplan der Gewerbeausstellung ausgebreitet, der uns zugleich mit der Aufforderung, die Ausstellung mit Modellen unserer modernen Wasserfilter und sonstiger Spezialfabrikate zu beschicken, zugestellt worden war. Unwillkürlich verglich ich diese beiden Zeichnungen miteinander und stellte so fest, daß eines der größten Abflußrohre, die nach den Rieselfeldern im Süden der Stadt gehen, gerade unter der großen Haupthalle der Ausstellung und den vor derselben projektierten gärtnerischen Anlagen, zu denen auch ein Kinderspielplatz gehören sollte, entlang lief. Damit hatte ich meinem fachmännischen Streben für diesen Vormittag Genüge getan. Ich legte die beiden Plane beiseite und griff zu der New Yorker Illustrierten Zeitung, die ich mir morgens auf dem Gange ins Bureau erstanden hatte. In diesem Blatt interessierten mich bald zwei Aufsätze. Der eine behandelte das Leben und Treiben der indischen Fakire, der andere einige kurz hintereinander erfolgte Einbrüche in die Stahlkammern mehrerer Bankgebäude. In dem ersten Artikel über die Fakire war sehr ein gehend das wunderbare Experiment eines Indiers beschrieben, der sich acht Wochen lang hatte eingraben lassen und nachher frisch und munter seinem kühlen Erdgefängnis wieder entstiegen war. Die zweite Abhandlung schilderte mit allen Einzelheiten den Einbruch in das Kassengewölbe der Kaliforniabank in San Francisco, der mit Hilfe eines von den Dieben in monatelanger Arbeit hergestellten unterirdischen, direkt unter dem Gewölbe mündenden Ganges ausgeführt worden war. Während ich noch diesen letztgenannten Artikel las, durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke, oder vielmehr es entrollte sich mit wahnsinniger Hast in meinem Hirn der vollständige Plan für meine spätere Tätigkeit als Impresario Tuma Rasantasenas, ein Plan, den ich in allen, selbst den feinsten Einzelheiten mit einem Male wie ein plastisches Gemälde fix und fertig vor mir sah. Im ersten Augenblick schreckte ich vor dieser Offenbarung wie vor einer bösen Versuchung zurück, weil ich mir sofort sagte, daß dieser Plan sich mit den nötigen Geldmitteln, der nötigen Vorsicht und Kühnheit sehr wohl in die Wirklichkeit umsetzen ließe. Drei Tage vergingen trotzdem noch, ehe ich zu einem bestimmten Entschlusse kam. Ich war arm, arbeitete bei der Firma Hawkens für ein geringes Gehalt, aber ich war auch ehrgeizig und glaubte mit einem kleinen Vermögen in den Händen mir durch meine Energie und meinen Unternehmungsgeist schnell weiterhelfen zu können. Zur Verwirklichung meiner Idee gehörten nur bedeutende Barmittel, die ich leider nicht besaß. Da vertraute ich mich meinem Chef, Herrn William Hawkens, an, der ein viel zu smarter Geschäftsmann ist, als daß er nicht das nötige Verständnis für diese unter Umständen recht einträgliche Idee gehabt hätte. Er war es, der mir ohne langes Besinnen trotz des großem Risikos fünfzigtausend Dollar vorstreckte und mich auch bis auf weiteres beurlaubte. Bereits am Tage nach der Unterredung mit Hawkens brachte mich der nächste Eilzug nach New York, und von dort einer der modernen Schnelldampfer nach Hamburg. Hier in der altehrwürdigen Hafenstadt, in der man Vertreter fast aller Volksstämme der Welt antreffen kann, fand ich bald, was ich suchte: einen Indier mit einem schönen, langen Vollbart, der als Türhüter in goldstrotzender Uniform bei einem Varieté dritter Güte seinen Lebensunterhalt verdiente. An diesen Indier, der Tuma Bengavi hieß, machte ich mich vorsichtig heran, um mich auch von seinen geistigen Fähigkeiten zu überzeugen. Diese Prüfung hatte ein gutes Ergebnis. Tuma Bengavi war durch seinen langjährigen Aufenthalt in den verschiedensten Großstädten zu einem siebenmal gesiebten Gauner geworden und zeigte sich, nachdem er einige Goldstücke als Vorschuß erhalten hatte, sofort bereit, die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen. Er brannte seinem bisherigen Brotherrn einfach durch und begleitete mich zunächst nach Berlin. Auf diese Weise wurde ich Impresario des berühmten Fakirs Tuma Rasantasena. Ich verpflichtete ihn gleich bei Abschluß unseres Kontraktes dazu, fortan den Stummen zu spielen, und ich muß ehrlich sagen, er hat diese nicht leichte Aufgabe ebenso glänzend gelöst, wie er seine ganze Rolle mit außerordentlicher Gewandtheit durchführte.

Für mich gab es aber noch einen zweiten Grund, weshalb ich gerade nach Deutschland gegangen war, um mir dort meinen schlafenden Fakir anzuwerben. In Berlin nämlich ließ ich in dem Atelier des rühmlichst bekannten Wachsmodelleurs Kastan den Kopf

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_schlafende_Fakir.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)