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Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495

Gelände abgeschritten hatte, bedeutete er mir in seiner mir leicht verständlichen Zeichensprache – er selbst spricht ja seinem Gelübde gemäß kein Wort –, daß diese Stelle auf dem Kinderspielplatz der einzig geeignete Ort für sein Experiment sei. Es wäre also unbedingt nötig, hier den Pavillon zu errichten. Die Lage bietet ja auch den großen Vorteil, daß die nach der Haupthalle hinströmenden Besucher in nächster Nähe vorüber müssen.“

Singleton prüfte eine Weile nachdenklich die Zeichnung und reichte sie dann seinem Gegenüber zurück. „Wird gemacht, Herr Houster – wird gemacht! Die Wahl des Platzes könnte gar nicht besser sein.“

Dann saßen die beiden Herren wohl noch eine Stunde beisammen, und der Impresario entwickelte nunmehr alle Einzelheiten, wie er namhafte Gelehrte der medizinischen Welt für die Sache interessieren wolle, und in welcher Weise er sich eine Kontrolle und eine Überwachung des Indiers während des Experiments gedacht habe.

Am nächsten Vormittag unterzeichneten Direktor Singleton als Vertreter des Ausstellungsdirektoriums und der Impresario des berühmten indischen Fakirs Tuma Rasantasena den Engagementsvertrag, in dem man in allen Punkten den Wünschen Housters nachgekommen war.

***

Miß Vicky Somgrave hatte soeben ihrem Vater den neuesten der täglichen Berichte über das Experiment Tuma Rasantasenas aus der „Cleveland Post“ vorgelesen. Jetzt warf sie die Zeitung ärgerlich mitten auf den Frühstückstisch, so daß die eine Ecke des Blattes sich in recht überflüssigem Anlehnungsbedürfnis an die goldgelbe Butter schmiegte und daher sehr bald einen großen Fettfleck aufzuweisen hatte.

„Und trotzdem ist alles Schwindel!“ rief sie erregt. „Ich werde schon noch dahinter kommen, wie dieser famose Impresario hier den Leuten Sand in die Augen streut!“

Percy Somgrave, in New York als einer der millionenschwersten und kühlsten, aber auch waghalsigsten Börsenspekulanten bekannt, lächelte zu diesem Temperamentsausbruch seines einzigen Kindes mit jener durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringenden Ruhe, die eine seiner Hauptcharaktereigenschaften bildete. „Du hast das Ungestüm von deiner verstorbenen Mutter geerbt, Vicky,“ sagte er nachsichtig und faltete die durchfettete Zeitung behutsam zusammen. „Von Schwindel kann hier keine Rede sein. Du vergißt, daß unsere berühmtesten Ärzte dabei gewesen sind, als der Fakir sich vor sechs Wochen in seinen Glassarg legte und durch Anstarren einer kleinen gläsernen Kugel, die ihm vor die Augen gehalten wurde, in diesen tiefen Schlaf versetzte und dann in die Gruft versenkt wurde. Du übersiehst ferner, daß der festgeschraubte Sargdeckel durch mehrere große Siegel mit dem Unterteil des Sarges verbunden ist. Rasantasena kann also sein gläsernes Gefängnis gar nicht ohne Wissen der über ihn eingesetzten Beobachtungskommission verlassen, die aus mehreren bedeutenden Medizinern und einigen Redakteuren der größten hiesigen Tageszeitungen besteht. Jede Verbindung mit der Außenwelt ist ihm vollständig abgeschnitten, und ebensowenig ist es möglich, ihm, falls er seinen Schlafzustand nur heucheln sollte, Nahrungsmittel zuzuführen, weil zu allem Überfluß der Pavillon auch nicht einen Augenblick unbewacht bleibt. Und, was ein Vorspiegeln des merkwürdigen Schlafzustandes anbetrifft, liebe Vicky – zeige mir doch einmal einen Menschen, der ununterbrochen von morgens acht Uhr bis abends zehn Uhr Tag für Tag völlig unbeweglich in derselben Stellung verharren könnte! Du bist ja übrigens vor acht Tagen Zeugin gewesen, wie der Fakir in seinem durchsichtigen Sarge in den Pavillon hinaufgezogen und nach diesen ersten fünf Wochen seines Experiments von den Ärzten untersucht und tatsächlich noch immer in tiefstem Schlafe liegend vorgefunden wurde. Du selbst hast aus nächster Nähe mitangesehen, daß der Sarg dann wieder versiegelt und langsam unter Vermeidung jeder Erschütterung in die schmale Grube auf seine beiden Böcke herabgelassen worden ist. – Gerade diese Untersuchung, die morgen vormittag wiederholt wird – natürlich nur, um den Geldbeutel des schlauen Impresarios durch das zu dieser besonderen Gelegenheit wiederum so unverschämt erhöhte Eintrittsgeld noch mehr zu füllen – gilt mir als der beste Beweis dafür, daß Rasantasena tatsächlich einer jener Bewohner des Märchenlandes Indien ist, die bisweilen über uns ganz unbegreifliche, vom medizinischen Standpunkt kaum zu erklärende Fähigkeiten verfügen. Ich kann dir nur raten, zerbrich dir nicht weiter über dieses Wunder dein eigensinniges Köpfchen!“

„Das ist ja alles schön und gut, doch meinen Verdacht zerstreust du trotzdem nicht! Ich vergesse jenes wohl nur von mir allein bemerkte höhnische Lächeln nicht, das die Lippen des Impresarios umspielte, als Professor Doktor Weasler von der hiesigen Universität an jenem Vormittag vor dem eben geöffneten Sarge des Fakirs seinen gelehrten Vortrag über die durch den hypnotischen Schlaf bei Rasantasena hervorgerufene teilweise Arbeitseinstellung der wichtigsten Organe hielt. Es war ein Lächeln, in dem selbstbewußte Ironie und zugleich auch Verachtung lag, Verachtung all der Dummen, die für ihr teures Geld den Schwindel mitansehen. So deutete ich mir dieses infame Lächeln. Nur schade, daß die Augen dieses Franklin Houster hinter der großen grauen Brille verborgen waren. Vielleicht hätte man sonst aus seinen Blicken noch mehr herauslesen können.“

„Besser, du hast ihm nicht so tief in die Augen geschaut,“ meinte der alte Herr mit feinem Spott. „Der Mann hat so einen Zug eiserner Energie, der ihn trotz des etwas struppigen Bartes für die holde Weiblichkeit nach meinen Erfahrungen recht gefährlich macht. Fraglos ist er eine von jenen Herrennaturen, die dem schwachen Geschlecht durch brutales, schonungsloses Beweisen ihrer Überlegenheit zu imponieren und gerade dadurch die kühlsten Herzen zu entflammen wissen. – Aber Scherz beiseite, Kind, ich habe Wichtigeres mit dir zu besprechen. Heute morgen ist ein Brief aus New York eingetroffen, der mich dringend dorthin zurückruft. Wir werden morgen vormittag also bestimmt reisen. Die Ausstellung haben wir ja bis in die verstaubtesten Winkel hinein besichtigt. Und ich habe auch das Hotelleben in diesen zwölf Tagen wieder einmal reichlich satt bekommen.“

In Viktoria Somgraves schmalem, feinem Antlitz zeigte sich bei dieser Nachricht deutlich ein Ausdruck von großer Enttäuschung. Aber mit echt weiblicher Schlauheit erwiderte sie trotzdem gleichmütig: „Gut, Pa, reisen wir also!“ Dann schaute sie nachdenklich über die Brüstung des blumengeschmückten Balkons und das von Fahrzeugen aller Art bedeckte nahe Hafenbassin auf die blauen, in der Sonne glitzernden Wasser des Eriesees hinaus. Sie schien mit einem Entschluß zu kämpfen. „Pa – ich möchte dir etwas anvertrauen,“ sagte sie plötzlich.

„Hast du dich etwa verliebt oder gar verlobt?“

Die junge Dame zuckte nur geringschätzig die Achseln. „Es betrifft den Fakir,“ erklärte sie kurz.

„Schon wieder dieser Fakir!“ stöhnte Somgrave in komischer Verzweiflung. „Also – schieß los, Töchterlein!“

Und sie „schoß los“. Der alte Herr wurde, je länger sie sprach, immer aufmerksamer und schlug sich schließlich schallend aufs Knie. „Das hast du wahrhaftig großartig eingefädelt! Gefällt mir an dir, diese kurze Entschlossenheit! Bist darin das rechte Kind deines Vaters.“

„Wir bleiben also?“

„Wir bleiben, trotzdem ich fürchte, daß du eine Enttäuschung erleben wirst. Die Idee, wie du diesen Indier zu entlarven gedenkst, ist ja sehr anerkennenswert, der Erfolg steht jedoch auf einem anderen Blatt. Du wirst schließlich wohl einsehen, daß du dich getäuscht hast, und das dürfte für dich eine ganz heilsame Lehre sein.“

„Abwarten – abwarten!“ rief Viktoria Somgrave, unbekümmert um diese wenig erfreuliche Prophezeiung. Und siegesgewiß fügte sie hinzu: „Ihr Schicksal hängt morgen an einem seidenen Fädchen, Herr Franklin Houster! Nehmen Sie sich vor mir in acht!“

***

Am nächsten Vormittag mußte Percy Somgrave von acht bis elf Uhr, also geschlagene drei Stunden, mit Vicky in dem Fakirpavillon ausharren, nur um einen Platz möglichst dicht an dem Gitter zu erhalten, das die viereckige Öffnung in dem Fußboden umgab, und während dieser drei Stunden hatte er die beste Gelegenheit, Tuma Rasantasena dort unten in seinem Glassarg in aller Ruhe anzustaunen. Bei den vier von matten Glasglocken verhüllten Glühbirnen in der Gruft konnte man die mit über der Brust gekreuzten Händen bewegungslos daliegende, in einen hellen, die Füße mitverhüllenden Burnus gekleidete Gestalt Rasantasenas mühelos erkennen, wenn auch die einzelnen Züge seines von einem dichten schwarzen Vollbart umrahmten hageren braunen Gesichts in der halben Dämmerung verschwammen.

Mit dem Glockenschlag elf bahnte sich die Beobachtungskommission, an ihrer Spitze Professor Doktor Weasler und der Impresario, einen Weg durch das in dem Pavillon dicht gedrängt stehende Publikum, und wenige Minuten später gab der Professor nach einer kurzen Ansprache den Arbeitern einen Wink, den Sarg emporzuziehen. Unter dem beinahe andächtigen Schweigen der Versammelten hob sich der gläserne Behälter immer mehr, bis man ihn auf die über die Fußbodenöffnung geschobenen starken Bretter stellen konnte. Die Herren prüften zunächst sehr sorgfältig die Siegel, die den Sargdeckel mit dem unteren Teile verbanden. Sie waren unverletzt. Hierauf wurde der Sarg vorsichtig geöffnet, und Professor Weasler beobachtete, die Uhr in der Hand, im Verein mit seinen Kollegen eine ganze Weile den Pulsschlag und die Atmungstätigkeit des Fakirs. Alles das wickelte sich unter lautloser Stille mit einer gewissen Feierlichkeit ab.

Viktoria Somgrave, die in der vordersten Reihe der Zuschauer ganz dicht zu Füßen des Sarges stand, hatte sich weit vorgebeugt, als der Glasdeckel von den Arbeitern abgehoben und beiseite gestellt wurde. Unverwandt sah sie jetzt auf eine bestimmte Stelle des hellen Burnus Rasantasenas. Ihre Augen schienen etwas Besonderes zu suchen, und ihr reizendes frisches Gesichtchen drückte dabei eine Spannung aus, die immer mehr wuchs, je länger ihre Blicke über das rauhe wollene Kleid des Indiers hinglitten.

Dann huschte ein schnelles triumphierendes Lächeln um ihre Mundwinkel. Hastig flüsterte sie ihrem Vater zu, der nicht weniger aufmerksam das Gewand des Fakirs gemustert hatte: „Ich sehe nichts! Und dieses Nichts ist der Sieg!“

„Leise, leise, Vicky!“ warnte Somgrave erschrocken. „Nur hier kein Aufsehen, Kind! Du weißt, was du mir versprochen hast!“

Er wollte noch mehr hinzufügen, aber Professor Weaslers dröhnende Stimme, die den größten Hörsaal auszufüllen vermochte, schnitt ihm jedes weitere Wort ab.

„Meine Damen und Herren,“ begann der berühmte Gelehrte mit einer leichten Verbeugung, „Ihnen allen wird bekannt sein, daß Tuma Rasantasena sowohl für die hiesige wie auch für die auswärtige Presse ein Gegenstand vieler Besprechungen geworden ist, daß es nicht wenige Stimmen gegeben hat, die in der ersten Zeit beharrlich immer wieder die Ansicht vertraten, daß dieses ganze Experiment nichts als eine schlau inszenierte Täuschung sei. Diese Zweifler sind jedoch langsam verstummt, da die Überwachungsmaßregeln der Beobachtungskommission jeden Versuch, dem Fakir heimlich Nahrungsmittel zuzuführen, unmöglich machten. Um auch den hartnäckigsten Zweiflern ein Mittel an die Hand zu geben, den Fakir selbst kontrollieren zu können, mache ich auf die Photographien aufmerksam, die von Tuma Rasantasena gleich nach seiner Einsargung angefertigt wurden. Mit Hilfe dieser Bilder, die die Händler auch heute hier wieder feilbieten, läßt sich durch einfaches Vergleichen einwandfrei nachweisen, daß die Stellung des Indiers, die Haltung seiner Arme, Hände und Füße, ja sogar der Faltenwurf seines Burnus genau gleich geblieben sind.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir nun noch einige notwendige wissenschaftlich Bemerkungen. Meine Fakultätskollegen und ich konnten soeben wieder feststellen, daß eine wesentliche Veränderung in dem Aussehen des Schlafenden, der nun schon sechs Wochen ohne die geringste Nahrungsaufnahme, ohne die geringste Bewegung in seiner Gruft zugebracht hat, trotz der langem Fastenzeit auch heute nicht festzustellen ist. Über diese auffallende Erscheinung, die darauf schließen läßt, daß bei Rasantasena keine bedeutendere Abnahme des Körpergewichts stattgefunden hat, können wir erst ein wissenschaftliches Gutachten abgeben, wenn der Indier aus seinem starrkrampfähnlichen Zustand erwacht ist. Der Termin für diese nicht nur von den hiesigen Gelehrten mit größter Spannung erwartete Erweckung ist bekanntlich für heute in acht Tagen festgesetzt. Tuma Rasantasena wird dann also volle sieben Wochen in seinem Sarg gelegen haben, eine Zeitspanne, die nur ein mit außerordentlichen Fähigkeiten ausgestatteter Mensch ohne ernste Schädigung seiner Gesundheit unter diesen Bedingungen durchzuhalten vermag. – Jetzt, verehrte Anwesende, können wir den Sarg wieder schließen lassen, und dann versiegeln mit dem Bewußtsein, Ihnen eines der größten medizinischen Wunder aus nächster Nähe gezeigt zu haben.“

Vicky Somgrave hatte während dieser Rede Professor Weaslers ihren Blick förmlich in Franklin Housters Gesicht eingebohrt, der ihr gegenüber am Kopfende des Glassarges stand. Und wieder war es ihr wie schon vor einer Woche aufgefallen, daß gerade bei des alten Gelehrten begeistertsten Worten, mit denen er die völlige Unanfechtbarkeit dieser Vorführung pries, über des Impresarios energisches Antlitz blitzschnell ein Lächeln flog.

***

Am Nachmittag desselben Tages hielt ein elegantes Auto vor einem niedrigen, in der Nähe der Ausstellung einsam inmitten eines großen Gartens

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_schlafende_Fakir.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)