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Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495

Der schlafende Fakir.
Erzählung von Walter Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Hannibal Shelders hatte seinen übersichtlichen und alle Schwierigkeiten seines Planes so überzeugend beseitigenden Vortrag beendet und wartete nun mit leicht begreiflicher Spannung auf die Entscheidung seines Chefs. Dieser, der Besitzer der im ganzen Osten Nordamerikas bekannten Firma W. Hawkens, Wasserleitungs- und Kanalisationsanlagen, schaute jetzt seinem jungen Ingenieur mit einem Blick in das bartlose Gesicht, der zugleich Staunen und Achtung enthielt.

„Ich gestehe Ihnen ehrlich ein,“ sagte er mit leisem Schmunzeln, „diesen verwegenen Unternehmungsgeist hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, Shelders! Die Art, wie Sie den Grundstock zu späteren Reichtümern legen wollen, die Sie bei Ihrer mir soeben offenbarten genialen Erfindungsgabe und Tatkraft sicher noch erwerben werden, imponiert mir, würde sicher jedem amerikanischen Geschäftsmann imponieren. Ihr Vorhaben ist wirklich geistreich ausgeklügelt und verspricht auch den erhofften Erfolg, wenn – – Aber wozu soll ich Ihnen nochmals all die Hindernisse aufzählen, die auch hier zwischen Wagen und Gelingen liegen! Ihre Gerissenheit wird sie schon zu umgehen wissen. Riskant freilich ist die Geschichte, das ist nicht abzuleugnen! Aber ich nehme dieses Risiko auf mich! – Hier meine Hand, Shelders, Sie sollen die gewünschte Summe von mir als Darlehn zu dem üblichen Zinsfuß erhalten und lassen mich dafür als Entgelt für mein Risiko mit dem fünften Teil am Gewinn teilnehmen. Eine Anweisung über fünfzigtausend Dollar wird wohl zunächst genügen. Und von heute ab sind Sie bis auf weiteres mit vollem Gehalt beurlaubt. – So – und nun viel Glück auf den Weg!“


Sechs Wochen später, Ende Mai des Jahres 1902, wurde dem Direktor der Gewerbeausstellung in Cleveland, der nordamerikanischen, am Eriesee gelegenen Fabrikstadt, von einem Bureaudiener eine Karte überreicht, die folgenden Aufdruck hatte: „Franklin Houster, Impresario des berühmten schlafenden Fakirs Tuma Rasantasena.“ Und einige Minuten später saß ein junger, schlanker Mann, dessen Augen durch eine große graue Brille verdeckt waren, dem Leiter des Riesenunternehmens, das am 15. Juni eröffnet werden sollte, in dem geräumigen Geschäftszimmer gegenüber.

„Sie wünschen, Herr Houster?“ fragte der vielbeschäftigte Direktor Singleton ungeduldig und drehte nervös die Visitenkarte des Besuchers zwischen den Fingern. „Ich habe wenig Zeit. Also fassen Sie sich kurz.“

Den Impresario ließ dieser nicht gerade vielversprechende Empfang völlig kalt. „Wen Sie vor sich haben, Herr Singleton, hat Ihnen meine Karte bereits gesagt,“ entgegnete er mit dem ruhigen, unaufdringlichen Selbstbewußtsein eines von seinem Wert überzeugten Mannes. „Ich komme, um Ihnen Tuma Rasantasena für die Ausstellung als hervorragende Attraktion anzubieten. – Bitte, hören Sie mich erst an, bevor Sie eine Entscheidung treffen. Sie können sich wohl denken, daß ich es niemals wagen würde, Ihnen eine Offerte zu machen, die nicht wirklich etwas Aussichtsvolles enthält. Gestatten Sie, Ihnen zunächst in Kürze mitzuteilen, wie ich den Fakir kennen lernte und Gelegenheit fand, mich von seinen merkwürdigen Fähigkeiten zu überzeugen. – Ich bin eigentlich Ingenieur. Als solcher war ich im vorigen Jahr in Indien bei dem Bau einer Eisenbahnlinie beschäftigt, die als Abzweigung der Hauptstrecke von Kalkutta nach Benares bisher von allem Verkehr abgeschnittene Gebiete Zentralindiens dem Handel und der Kultur erschließen sollte. Eines Tages erzählte mir einer unserer indischen Arbeiter, daß in einem kleinen Dörfchen in der Nähe unserer Arbeitstelle ein Fakir der zu ewigem Schweigen verpflichteten Sekte der Mewlewi-Derwische namens Tuma Rasantasena hause, welcher sich schon des öfteren für mehrere Wochen habe begraben lassen, nachdem er sich in einen starrkrampfähnlichen Zustand versetzt hatte. Nach Rücksprache mit meinen Kollegen ließ ich Rasantasena eine größere Summe bieten, wenn er sein Experiment vor uns wiederholen wollte. Der Fakir stellte sich auch wirklich ein, und wir fünf Ingenieure, die wir das Geld für diese interessante Unterbrechung unseres eintönigen Daseins zusammengeschossen hatten, haben dann die Ausführung der seltsamen Vorstellung genau überwacht und dabei festgestellt, daß der Fakir tatsächlich die wunderbare Gabe besitzt, fast zwei Monate in einem Holzkasten zwei Meter tief unter der Erde eingeschlossen in todähnlichem Schlafe zuzubringen. Ein Betrug war bei den von uns getroffenen Vorsichtsmaßregeln vollkommen unmöglich gemacht, zumal wir abwechselnd Tag und Nacht die Stelle, wo Rasantasena vor unseren Augen eingegraben worden war, bewachten und auch seiner Ausgrabung und Wiedererweckung beiwohnten. Die außerordentliche Seltenheit von Rasantasenas Experiment brachte mich sofort auf den Gedanken, aus des Indiers mir noch heute ganz unbegreiflichen Fähigkeiten Kapital zu schlagen. Nachdem der Bahnbau vollendet und ich wieder mein freier Herr war, bin ich sofort auf dem kürzesten Wege hierher nach Cleveland gekommen, um auf der demnächst zu eröffnenden Gewerbeausstellung, die fraglos einen ungeheuren Besuch aus allen Weltteilen zu erwarten hat, mit Tuma Rasantasena mein erstes Debüt zu geben.“

Singleton ließ seine grauen, scharfen Augen eine ganze Weile forschend auf dem Gesicht seines Gegenübers ruhen, bevor er fragte: „Und welche Garantien bieten Sie mir, daß der Fakir tatsächlich imstande ist, ein ähnliches Experiment auch hier auszuführen?“

„Ich werde auf einer hiesigen Bank die Summe von dreißigtausend Dollar deponieren, die vertraglich der Leitung der Ausstellung zufallen soll, sobald Rasantasena sich als Schwindler erweist, oder aber, wenn er sein Experiment vor Ablauf von sieben Wochen abbricht. Ich glaube, daß Sie mit dieser Garantie zufrieden sein können.“

In bedeutend höflicherem Tone entgegnete der Direktor: „Ich selbst kann in dieser Angelegenheit nicht endgültig entscheiden, Herr Houster. Jedenfalls möchte ich Sie aber bitten, mir nunmehr mit allen Einzelheiten anzugeben, wie Sie sich das Auftreten des Indiers hier überhaupt denken. Ich nehme an, daß Sie mit einem fertigen Plane zu mir gekommen sind.“

„Allerdings – mein Plan ist bis in die kleinsten Kleinigkeiten vorbereitet,“ sagte Franklin Houster mit derselben Liebenswürdigkeit. „Was zunächst die pekuniäre Seite anbetrifft, so verlange ich für die sieben Wochen, die das Experiment Rasantasenas dauert, rund dreißigtausend Dollar, zahlbar nach Beendigung des Engagements. Alle Kosten für Reklame und die notwendigen Baulichkeiten tragen Sie. Ich habe dann noch eine Bedingung zu stellen, die ich Ihnen jedoch erst nachher mitteilen will.“

Der Impresario holte zwei Zeichnungen hervor und breitete zunächst die eine auf dem Schreibtisch aus.

„Sie haben hier die genauen Grundrisse und die Totalansicht für einen in dem leichten, graziösen Baustil der indischen Tempel entworfenen Pavillon, der über der Stelle zu errichten ist, wo Rasantasena während seines Schlafzustandes begraben werden soll. Das Publikum wird den Fakir durch diesen viereckigen, von einem Gitter umgebenen Ausschnitt im Boden des kleinen Gebäudes in seinem mit einigen Luftlöchern versehenen Glassarge, der in eine drei Meter tiefe, an den Seiten mit Holz verkleidete Grube versenkt ist, sich ansehen können. Ich gedenke nun – und das ist die Bedingung, von der ich vorhin sprach – für die Besichtigung des schlafenden Fakirs ein Eintrittsgeld von einem Dollar zu erheben, eine Einnahme, die mir allein zufallen muß.“

„Warum nicht, Herr Houster,“ meinte der Direktor lächelnd. „Die Art und Weise, wie Sie die Sache arrangieren wollen, sagt mir so vollkommen zu, daß ich Ihnen jetzt schon mit ziemlicher Bestimmtheit eine Annahme Ihrer Vorschläge von seiten der Ausstellungsleitung versprechen kann. Uns hat nämlich bisher – ich bin hierin ganz ehrlich – für unser Unternehmen gerade ein so außerordentliches Zugstück gefehlt. Sie wissen, hier bei uns im gesegneten Amerika geht es nun einmal ohne etwas die Neugier reizenden Jahrmarktsrummel selbst bei den ernsthaftesten Angelegenheiten nicht ab. Ihr Fakir kommt uns da wirklich wie gerufen. Ich werde sofort heute nachmittag eine Sitzung des Vorstandes anberaumen und den Herren Ihre Pläne unterbreiten. – Nur eine Frage gestatten Sie mir noch, Herr Houster. Wo soll der Pavillon, der mir in seiner zierlichen, für seinen Zweck so gut gewählten Architektur ausnehmend gefällt, auf dem Ausstellungsgelände aufgeführt werden?“

„Auch diesen Punkt habe ich vorgesehen, Herr Singleton. Ich bin gestern in aller Frühe mit Rasantasena in der Ausstellung gewesen, denn der Fakir kann sein Experiment nur an einer Stelle vornehmen, die gewissen Bedingungen entspricht. So muß sie zum Beispiel von allen Gebäuden möglichst entfernt sein, etwas höher als die Umgebung liegen und viel Sonne erhalten.“ Der Impresario nahm die zweite Zeichnung, einen Plan des Ausstellungsgebietes, zur Hand und wies mit dem Finger auf einen inmitten der gärtnerischen Anlagen vor der gewaltigen Haupthalle gelegenen freien, runden Platz hin, der als Kinderspielplatz dienen sollte. „Als ich mit Rasantasena das ganze

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der schlafende Fakir. In: Das Buch für Alle, 45. Jahrgang, Heft 22, S. 487, 490, 492, 494 u. 495. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_schlafende_Fakir.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)