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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Erster Band welcher das I. bis IV. Heft enthält

Es ist denkbar, daß ich meine eigne Glükseligkeit durch ein Opfer vermehre, das ich fremder Glükseligkeit bringe – aber auch noch dann, wenn dieses Opfer mein Leben ist? Und die Geschichte hat Beispiele solcher Opfer – und ich fühle es lebhaft, daß es mich nichts kosten sollte, für Raphaels Rettung zu sterben. Wie ist es möglich, daß wir den Tod für ein Mittel halten, die Summe unsrer Genüsse zu vermehren? Wie kann das Aufhören meines Daseins sich mit Bereicherung meines Wesens vertragen?

Die Voraussezung von einer Unsterblichkeit hebt diesen Widerspruch – aber sie entstellt auch auf immer die hohe Grazie dieser Erscheinung. Rüksicht auf eine belohnende Zukunft schließt die Liebe aus. Es muß eine Tugend geben, die auch ohne den Glauben an Unsterblichkeit auslangt, die auch auf Gefahr der Vernichtung das nämliche Opfer wirkt.

Zwar ist es schon Veredlung einer menschlichen Seele den gegenwärtigen Vortheil dem ewigen aufzuopfern – es ist die edelste Stuffe des Egoismus – aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchstunähnliche Geschlechter, deren Gränzen nie in einander fließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Erster Band welcher das I. bis IV. Heft enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1785–1787, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band1_Heft3_127.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)