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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

der Wille die Licenz der unwillkührlichen Bewegungen bändigt, giebt er zu erkennen, daß er die Freyheit der willkührlichen bloß zuläßt.

Sind Anmuth und Würde, jene noch durch architektonische Schönheit, diese durch Kraft unterstützt, in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet, und sie steht da, gerechtfertigt in der Geisterwelt, und freygesprochen in der Erscheinung. Beyde Gesetzgebungen berühren einander hier so nahe, daß ihre Grenzen zusammen fließen. Mit gemildertem Glanze steigt in dem Lächeln des Mundes, in dem sanftbelebten Blick, in der heitern Stirne die Vernunftfreyheit auf, und mit erhabenem Abschied geht die Naturnothwendigkeit in der edeln Majestät des Angesichts unter. Nach diesem Ideal menschlicher Schönheit sind die Antiken gebildet, und man erkennt es in der göttlichen Gestalt einer Niobe, im belvederischen Apoll, in dem borghesischen geflügelten Genius, und in der Muse des Barberinischen Pallastes [1].


  1. Mit dem feinen und großen Sinn, der ihm eigen ist, hat Winkelmann (Geschichte der Kunst. Erster Theil S. 480 folg. Wiener Ausgabe) diese hohe Schönheit, [214] welche aus der Verbindung der Grazie mit der Würde hervorgeht, aufgefaßt und beschrieben. Aber was er vereinigt fand, nahm und gab er auch nur für Eines, und er blieb bey dem stehen was der bloße Sinn ihn lehrte, ohne zu untersuchen, ob es nicht vielleicht noch zu scheiden sey. Er verwirrt den Begriff der Grazie, da er Züge, die offenbar nur der Würde zukommen, in diesen Begriff mit aufnimmt. Grazie und Würde sind aber wesentlich verschieden, und man thut unrecht, das zu einer Eigenschaft der Grazie zu machen, was vielmehr eine Einschränkung derselben ist. Was Winkelmann die hohe, himmlische Grazie nennt, ist nichts anders, als Schönheit und Grazie mit überwiegender Würde. „Die himmlische Grazie, sagt er, scheint sich allgenügsam, und bietet sich nicht an, sondern will gesucht werden; sie ist zu erhaben, um sich sehr sinnlich zu machen. Sie verschließt in sich die Bewegungen der Seele, und nähert sich der seligen Stille der göttlichen Natur. – Durch sie, sagt er an einem andern Ort, wagte sich der Künstler der Niobe in das Reich unkörperlicher Ideen, und erreichte das Geheimniß, [215] die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu verbinden“ (es würde schwer seyn, hierinn einen Sinn zu finden, wenn es nicht augenscheinlich wäre, daß hier nur die Würde gemeynt ist) „er wurde ein Schöpfer reiner Geister, die keine Begierden der Sinne erwecken, denn sie scheinen nicht zur Leidenschaft gebildet zu seyn, sondern dieselbe nur angenommen zu haben.“ – Anderswo heißt es „die Seele äuserte sich nur unter einer stillen Fläche des Waßers, und trat niemals mit Ungestüm hervor. In Vorstellung des Leidens bleibt die größte Pein verschlossen, und die Freude schwebet wie eine sanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Gesicht einer Leukothea.“
    Alle diese Züge kommen der Würde und nicht der Grazie zu, denn die Grazie verschließt sich nicht, sondern kommt entgegen, die Grazie macht sich sinnlich, und ist auch nicht erhaben sondern schön. Aber die Würde ist es, was die Natur in ihren Aeußerungen zurückhält, und den Zügen, auch in der Todesangst und in dem bittersten Leiden eines Laokoon, Ruhe gebietet.
    [216] Home verfällt in denselben Fehler, was aber bey diesem Schriftsteller weniger zu verwundern ist. Auch er nimmt Züge der Würde in die Grazie mit auf, ob er gleich Anmuth und Würde ausdrücklich von einander unterscheidet. Seine Beobachtungen sind gewöhnlich richtig, und die nächsten Regeln, die er sich daraus bildet, wahr; aber weiter darf man ihn auch nicht folgen. Grundsätze d. Krit. II Theil. Anmuth und Würde.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_213.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)