Seite:De Neue Thalia Band3 163.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

Krieg mit den besondern, oder den organischen, und die kunstreichste Technik wird endlich von der Kohäsion und Schwerkraft bezwungen. Daher hat auch die Schönheit des Baues, als bloßes Naturprodukt, ihre bestimmten Perioden der Blüthe, der Reife und des Verfalles, die das Spiel zwar beschleunigen, aber niemals verzögern kann; und ihr gewöhnliches Ende ist, daß die Maße allmählig über die Form Meister wird, und der lebendige Bildungstrieb in dem aufgespeicherten Stoff sich sein eigenes Grab bereitet. [1]


  1. Daher man auch mehrentheils finden wird, daß solche Schönheiten des Baues sich schon im mittlern Alter durch Obesität sehr merklich vergröbern, daß, anstatt jener kaum angedeuteten zarten Lineamente der Haut, sich Gruben einsenken und wurstförmige Falten aufwerfen, daß das Gewicht unvermerkt auf die Form Einfluß bekömmt, und das reizende mannichfache Spiel schöner Linien auf der Oberfläche sich in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fette verliert. Die Natur nimmt wieder, was sie gegeben hat.
    Ich bemerke beyläufig, daß etwas ähnliches zuweilen mit dem Genie vorgeht, welches überhaupt in [164] seinem Ursprunge, wie in seinen Wirkungen mit der architektonischen Schönheit vieles gemein hat. Wie diese, so ist auch jenes ein bloßes Naturerzeugniß, und nach der verkehrten Denkart der Menschen, die, was nach keiner Vorschrift nachzuahmen, und durch kein Verdienst zu erringen ist, gerade am höchsten schätzen, wird die Schönheit mehr als der Reiz, das Genie mehr als erworbene Kraft des Geistes bewundert. Beyde Günstlinge der Natur werden bey allen ihren Unarten (wodurch sie nicht selten ein Gegenstand verdienter Verachtung sind) als ein gewißer Geburtsadel, als eine höhere Kaste betrachtet, weil ihre Vorzüge von Naturbedingungen abhängig sind, und daher über alle Wahl hinaus liegen.
    Aber wie es der architektonischen Schönheit ergeht, wenn sie nicht zeitig dafür Sorge trägt, sich an der Grazie eine Stütze und eine Stellvertreterin heranzuziehen, eben so ergeht es auch dem Genie, wenn es sich durch Grundsätze, Geschmack und Wissenschaft zu stärken verabsäumt. War seine ganze Ausstattung eine lebhafte und blühende Einbildungskraft (und die Natur [165] kann nicht wohl andre als sinnliche Vorzüge ertheilen) so mag es bey Zeiten darauf denken, sich dieses zweydeutigen Geschenks durch den einzigen Gebrauch zu versichern, wodurch Naturgaben Besitzungen des Geistes werden können; dadurch, meyne ich, daß es der Materie Form ertheilt; denn der Geist kann nichts, als was Form ist, sein eigen nennen. Durch keine verhältnißmäßige Kraft der Vernunft beherrscht, wird die wildaufgeschoßene üppige Naturkraft über die Freyheit des Verstandes hinauswachsen, und sie eben so ersticken, wie bey der architektonischen Schönheit die Masse endlich die Form unterdrückt.
    Die Erfahrung, denke ich, liefert hievon reichlich Belege, besonders an denjenigen Dichter-Genien, die früher berühmt werden als sie mündig sind, und wo, wie bey mancher Schönheit, das ganze Talent oft die Jugend ist. Ist aber der kurze Frühling vorbey, und fragt man nach den Früchten, die er hoffen ließ, so sind es schwammigte und oft verkrüppelte Geburten, die ein mißgeleiteter blinder Bildungstrieb erzeugte. Gerade da, wo man erwarten [166] kann, daß der Stoff sich zur Form veredelt und der bildende Geist in der Anschauung Ideen niedergelegt habe, sind sie, wie jedes andre Naturprodukt, der Materie anheim gefallen, und die vielversprechenden Meteore erscheinen als ganz gewöhnliche Lichter – wo nicht gar als noch etwas weniger. Denn die poetisirende Einbildungskraft sinkt zuweilen auch ganz zu dem Stoff zurück, aus dem sie sich losgewickelt hatte, und verschmäht es nicht, der Natur bey einem andern solidern Bildungswerk zu dienen, wenn es ihr mit der poetischen Zeugung nicht recht mehr gelingen will.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_163.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)