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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält.

denn die Mitte der Ebene leuchtete von den weissen Ruinen marmorner Riesengebäude. Vorzüglich zog eine majestätische Colonnade, die zu einem wohlerhaltenen, prächtigen Dom führte, meine Aufmerksamkeit so heftig an sich, daß ich meinen Kummer vergaß, den steilen Abhang des Hügels hinabkletterte, und ohne Furcht, auf die erhabene Säulenreihe zueilte. Unterwegs sah ich manches uralte Denkmal voll seltsamer Figuren, deren Deutung ich eben so wenig als die Inschriften, verstehen konnte. Doch glaubte ich auf manchem Marmor das geheiligte Feuer der römischen Vestalinnen zu erblicken, wovon mir eine ältere Freundinn zuweilen etwas erzählt hatte. Allein ich flog alles vorbey, und trat endlich in die herrliche Colonnade. Hier war mehr als das Werk gemeiner Menschheit, eine überirdische Größe strahlte aus jedem einzelnen Stücke hervor, und das Ganze konnte ich nicht ohne ein ehrfurchtvolles Zittern anschauen. Lange stand ich in stumme Bewunderung versunken, endlich störte ein nahes Geräusch den hohen Flug meiner Phantasie. Es war eine Schlange die aus ihrer Höhle hervorkroch, um sich an den Strahlen der untergehenden Sonne zu wärmen. Wie oft war ich nicht vor diesem gräßlichen Thiere geflohen, jezt schien es mir so traulich und gut, weil die schauerhafte Stille einer öden Gegend uns jedes lebendige Wesen willkommen

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band2_397.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)