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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält.

erklang so traurig und herzerschütternd, daß alle bis zu Thränen gerührt wurden. Er sang die Jammerklage über ein liebliches Mädchen, das in der Blüte der Jahre, ihrem Vater, ihrem Geliebten aus den Armen gerissen ward, um zu schmachten in fürchterlicher Einsamkeit. So oft er nun weinend und stammelnd aussprach: „Wo ist mein Kind, mein armes Kind?“ – war es als höre man ein unterirdisches Poltern in den uralten Gräbern der Sarazenen welche einst bey der Belagerung dieser Feste fielen, und am Fuße der Thürme begraben lagen. Der Harfner stand da in flatterndem Gewande, ehrwürdig durch seine edle Miene, und einen langen schneeweissen Bart, seine Augen funkelten, sein Haar flog im Winde, er blickte wehmüthig in die Hallen des Schlosses.

Endlich rief er, wie mit dem Tode ringend: „Ach Gott, sie ist dahin!“ – und es pochte lauter in den Grabgewölbern, rollte unter dem Boden hin, daß das Feuer knisterte, das Gemäuer erbebte, die Zuhörer von ihren Sitzen auffuhren mit blassem Gesichte, berganstehenden Haaren. – Da floß plötzlich ein sanftes Minnelied von den Lippen des Harfners und der schnelle Uebergang vom Schauerhaften ins Liebliche zerschmelzte auch das roheste Herz in süße, sanfte Gefühle.

Unterdessen hatte sich alles Leben hieher gedrängt, im Innern der Burg herschten schon Stille

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band2_389.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)