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Redner als historische Quelle. Die Zuverlässigkeit seiner Angaben verbürgt ihm der Umstand, daß er ein „Ohren- und Augenzeuge“ ist, für eine Vorstellung von dem Leben und den Sitten der Germanen des 5. Jahrhunderts konnte er in der Tat kaum eine bessere Quelle finden.[1] Den Früheren hat Claudian zu ähnlichen Zwecken gedient, so schon Meisterlin, aber wieviel großartiger ist die Anschauung des Rhenanus! Er verwendet den Sidonius in demselben Sinne wie die germanischen Volksrechte: Er will den „status“ der einzelnen Völker in bestimmten Zeitpunkten verstehen[2]; hier wird er breit, während er die Ereignisse zusammenfaßt. Es gibt keinen zweiten Historiker des deutschen Humanismus, der so bestimmt von der Erzählung fort und zur Zustandsschilderung hinstrebt.

Gewiß hat darauf Tacitus gewirkt, von dem schon die ersten Herausgeber zu rühmen wußten, daß er im Gegensatz zu Livius nicht bloß Kriegshändel enthalte:[3], aber auch noch anderes.

Für Rhenanus sind die Zerstörung des römischen Reichs im allgemeinen und die Siege der Germanen im besonderen nur bedingt ein Ruhmestitel seines Volkes. Er bewundert dies römische Reich als eine Organisation ohnegleichen, er bedauert, daß auch ihm das Los der Vergänglichkeit fallen mußte. Aus den Trümmern der römischen Mauern und den Überresten der Statuen und Inschriften baut er sich die alte Kultur wieder auf und beklagt ihre Zerstörung. Die Regierungsweisheit der Römer erscheint ihm außerordentlich, von ihr könnte, so meint er, auch die Gegenwart noch lernen.[4]

Dagegen sind die Germanen reine Barbaren. Sie haben ein einziges Gut, die Freiheit, im übrigen aber sind sie Räuber. Für ihre Wanderungen kennt er nur einen Grund, den Landhunger, wo sie hinkommen, sind sie zunächst nur Zerstörer, er meint, die Franken möchten auch einen guten Anteil an den Städteverwüstungen gehabt haben, die die Chronisten von Attila erzählen.[5]

Es ist dies ein durchgehender Gedanke bei Rhenanus, von ihm aus erklärt sich auch seine so eigentümliche Auffassung des regnum Francorum. Wenn er sich die Franken als Nachfolger der Römer denkt, so leitet ihn nicht die Vorstellung von der Translatio imperii, wie seine Zeitgenossen, sie sind ihm die Nachfolger der römischen Verwaltungspraxis, damit werden sie die Herren unter den deutschen Stämmen des alten Germaniens, wie es die Römer in Gallien und am Rhein geworden sind. Unzweifelhaft denkt sich das Rhenanus als eine notwendige Wendung, schon weil im Gefolge ihrer Herrschaft das Christentum kommt. Aber die Franken bringen auch die Knechtschaft,


  1. [263] 156) Res Germ. 61: Utinam vero nobis absolvisset Attilae bellum Sidonius, quod inchoarat scribere. Potuisset enim exacte omnia tradere, multarum rerum non tantum auritus, sed etiam oculatus testis. – Rhenanus gibt auch zweimal (S. 58 und 100) eine kurze Biographie des Sidonius, um ihn als nahen Beobachter der berichteten Vorgänge zu zeigen. Er findet seine Darstellung höchst plastisch („graphice“, ein Lieblingswort der Zeit), stellt aber S. 53 seine Gedichte über die Briefe. – Eine Einschränkung der Glaubwürdigkeit der poeticae laudes Claudians im Tacitus 428.
  2. [263] 156a) S. die Überschriften: Status Germaniae veteris ante Julium Caesarem; Status Alemanniae post victoriam apud Tolbiacum; Status Galliarum et Germaniarum sub Francis regibus et imperatoribus; Status Germaniae sub Imperatoribus Saxonibus et iis, qui hos insecuti sunt.
  3. [263] 156 b) S. die Vorrede auch im Bfwechsel 411 ff. Benutzt ist die des Alciat die auch im Tacitus von 1533 wieder abgedruckt ist (S. 492 ff.). Der Vergleich ist interessant.
  4. [263] 157) Res Germ. 61 f.: Quod si Franci praescissent statim se Galliarum aliquot provinciarum dominos futuros, mitius cum Germania secunda et Belgica prima fuisset actum. Et starent adhuc eximia Romanorum in provinciis opera, quorum hodie ne tantillum quidem superest, quando omnia a fundamentis eversa sunt a Francis Alemannis, reditum Romanorum metuentibus, quod ante erant saepe experti. – S. 111: Sermo, quo peculiariter Gallia fuit usa, priusquam in provinciae formam redigeretur a Romanis, prorsus putatur abolitus. Non secus suam amisere et Hispaniae. O miram Romanorum dexteritatem et indicibilem felicitatem. Et non miretur quis eripi potuisse Romanis provincias, quae non minus Romanae erant quam ipsa Roma. Sed habent regna suas periodos. – Tacitus von 1533 S. 429: Poterunt Romani, qui, ceu Iustinus scribit, finitimis populis armis subiectis primum Italiae, mox orbis imperium quaesivere, et hactenus esse nobis exemplo Turcae.
  5. [263] 158) Res Germ. 41: Alemanni inter Moenum amnem, Danubium, Rhenum et fontem Danubii sive limitem, qui Rhetiam ac Germaniam dividit, novas sedes fixerunt. . . quod tum pauciores incolas haberet is tractus et commodior esset illinc ad Rhaetiam primam, hinc ad Maximam Sequanorum et Primam Germaniam incursandam, opulentissimas provincias, quod unum spectabant Alemanni; vgl. 150 (Alemanni sola praedandi causa), 36, 55 (Odoacrum Saxonem insignem [264] piratam fuisse conicio), 61: Deinde post Attilam in interiorem Galliam digressum, quicquid supererat, quod ille non perdidisset, in proximis Rheno provinciis Franci et Alemanni Hunnum statim subsecuti prorsus everterunt. Nihilominus tota vastatio populatori Attilae ascribitur. – S. auch Tacitus von 1533 S. 430: Germani non tam propulsantes pericula Romanis impugnantibus, quam praedarum dulcedine provincias Romanas incursantes. – Vorrede zum Procop (Bfwechsel 402): Non quod probem (ut ingenue fatear) urbium incendia, direptiones, eversiones agrorumque devastationes, sine quibus hoc genus victoriae non contingunt: quis enim cordatus huiusmodi insanias non detestetur? sed quia vulgo commendari ista scimus, unde nobilitas omnis petatur.