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bedienen. Wenn sie einen nahezu einförmigen und einer grossen Anzahl von Formen gemeinsamen Charakter finden, der bei andern nicht vorkommt, so betrachten sie ihn als sehr werthvoll; kömmt er bei einer geringern Anzahl vor, so ist er von geringerem Werthe. Zu diesem Grundsatze haben sich einige Naturforscher offen als zu dem einzig richtigen bekannt, und keiner entschiedener als der vortreffliche Botaniker August St.-Hilaire. Wenn gewisse Charaktere immer in Wechselbeziehung mit einander erscheinen, mag auch ein bedingendes Band zwischen ihnen nicht zu entdecken seyn, so wird ihnen besondrer Werth beigelegt. Da in den meisten Säugthier-Gruppen wesentliche Organe, wie die zur Bewegung des Blutes, zur Athmung, zur Fortpflanzung bestimmten, nahezu von gleicher Beschaffenheit sind, so werden sie bei deren Klassifikation hoch gewerthet; wogegen wieder in andern Gruppen alle diese wichtigsten Lebens-Werkzeuge nur Charaktere von ganz untergeordnetem Werthe darbieten.

     Vom Embryo entnommene Charaktere erweisen sich von gleicher Wichtigkeit, wie die der ausgewachsenen Thiere, indem unsre Klassifikationen die Arten in allen ihren Lebens-Altern umfassen. Doch scheint es sich aus der gewöhnlichen Anschauungs-Weise keinesweges zu rechtfertigen, dass man die Struktur des Embryos für diesen Zweck höher in Anschlag bringe als die des erwachsenen Thieres, welches doch nur allein vollen Antheil am Haushalte der Natur nimmt. Nun haben die grossen Naturforscher Milne-Edwards und L. Agassiz scharf hervorgehoben, dass embryonische Charaktere von allen die wichtigsten für die Klassifikation sind, und diese Behauptung ist fast allgemein als richtig aufgenommen worden. Sie entspricht auch den Blüthen-Pflanzen ganz gut, deren zwei Hauptabtheilungen nur auf embryonische Charaktere gegründet sind, nämlich auf die Zahl und Stellung der Blätter des Embryos oder der Kotyledonen und auf die Entwicklungs-Weise der Plumula und Radicula. In unsren embryologischen Erörterungen werden wir den Grund einsehen, wesshalb diese Charaktere so werthvoll sind, indem nämlich die auf dieselben gegründete Klassifikations-Weise stillschweigend die Vorstellung von der gemeinsamen Abstammung der Arten anerkennt.

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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_422.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)