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     Wenn daher Männchen und Weibchen einer Thier-Art die nämliche allgemeine Lebens-Weise haben, aber in Bau, Farbe oder Verzierungen von einander abweichen, so sind nach meiner Meinung diese Verschiedenheiten hauptsächlich durch die Geschlechtliche Wahl bedingt; d. h. männliche Individuen haben in aufeinander-folgenden Generationen einige kleine Vortheile über andre Männchen gehabt in Waffen, Vertheidigungs-Mitteln oder Reitzen und haben diese Vortheile auf ihre männlichen Nachkommen übertragen. Doch möchte ich nicht alle solche Geschlechts-Verschiedenheiten aus dieser Quelle ableiten; denn wir sehen Eigenthümlichkeiten entstehen und beim männlichen Geschlechte unsrer Hausthiere erblich werden, wie die Hautlappen bei den Englischen Boten-Tauben, die Horn-artigen Auswüchse bei den Männchen einiger Hühner-Vögel u. s. w., von welchen wir nicht annehmen können, dass sie den Männchen im Kampfe nützlich sind oder eine Anziehungskraft auf die Weibchen ausüben[1]. Analoge Fälle sehen wir auch in der Natur, wo z. B. der Haar-Büschel auf der Brust des Puterhahns weder nützlich im Kampfe noch eine Zierde für den Brautwerber seyn kann; — und wirklich, hätte sich dieser Büschel erst im Zustande der Zähmung gebildet, wir würden ihn eine Monstrosität nennen!

     Beleuchtung der Wirkungsweise der Natürlichen Züchtung.) In der Absicht die Art und Weise klar zu machen, wie nach meiner Meinung die Natürliche Wahl wirke, muss ich um die Erlaubniss bitten, ein oder zwei erdachte Beispiele zur Erläuterung vorzutragen. Denken wir uns zunächst einen Wolf, der sich seine Beute an verschiedenen Thieren theils durch List, theils durch Stärke und theils durch Schnelligkeit verschaffe, und nehmen wir an, seine schnelleste Beute, der Hirsch z. B., hätte sich aus irgend einer Ursache in einer Gegend sehr vervielfältigt, oder andre zu seiner Nahrung dienende Thiere hätten in der Jahreszeit, wo sich der Wolf seine Beute am schwersten verschaffen kann, sehr vermindert. Unter solchen Umständen kann

  1. Aber wie vermöchten wir zu ermessen, was einen Bewerber in den Augen einer Henne oder einer Taube liebenswürdig machen könne!     D. Übs.
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Charles Darwin: Entstehung der Arten. Stuttgart 1860, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Entstehung_der_Arten_1860_(Darwin)_095.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)