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bescheidenen Sensitivität erlauben. So legt er besonderen Werth darauf, es nicht vertragen zu können, wenn man mit einem Messer auf den Teller kratzt. Aus solchen Vorfällen, die in Andern das normale Unbehagen erzeugen, empfängt er die Anregung zu dichterischem Schaffen. Hier liegen Art und Stärke seines Talentes. Nach den Stoffen hatte er nie weit zu gehen. Er schrieb immer das, woran seine Freunde gerade arbeiteten, und da die Jung-Wiener Schule einstimmig das Thema vom Sterben gewählt hat und mit vereinten Kräften dem Tode ein paar Novellen abzuringen bemüht ist, sehen wir ihn mit der Anempfindung einiger Sentimentalitäten über Begräbnisse, Friedhofskränze und Hinterbliebene eifrig beschäftigt. Seine Production muss man sich so vorstellen, dass er, eine Art Nuancenzuträger, sämmtliche Einfälle seines accreditirteren Freundes in Aufbewahrung hat und dafür jeden zehnten benützen darf. Wiewohl er in einem Ausverkaufe von Individualitäten billig zu einer solchen gekommen sein soll, hat sich ihm das reine Künstlerthum auf die Dauer doch nicht rentirt. Er, dem es in seinem Kreise stets eingeschärft worden war, auf die Tagesschriftsteller mit Verachtung herabzusehen, lief bald in den Hafen der Journalistik ein, aber mit dem festen Vorsatz, sich als ehemaliger Literat über das Niveau seiner nunmehrigen Collegen zu erheben. Glücklicherweise war ihm noch von früher her der Tonfall modernen Styles im Ohre geblieben, seine Freunde hatten ihm einige unterstandslose Beobachtungen mit auf den Weg gegeben, und ein paar verkommene Nuancen, die einst vom Tische abgefallen waren, raffte er noch in Eile auf. Im Uebrigen mit einer tüchtigen Portion Selbstvertrauen begabt, wohl wissend, dass er, wo er sich nicht auf seine Freunde verlassen könne, schon auf eigene Faust undeutsch schreiben werde, begann er seine Thätigkeit. Zunächst fragte er einen Wachmann nach der Lage des Theaters, dessen Tradition zu bekämpfen er entschlossen war. Man kann sagen, er hat bis heute doch die wichtigsten Stücke Schiller’s und Shakespeare’s gesehen – warum zögert die Direction so lange mit dem Königsdramen-Cyklus? „Hamlet“ z. B. sah er gelegentlich einer Neubesetzung zum erstenmale, wobei er als gewissenhafter Recensent nicht verfehlte, vorher sich von der Directionskanzlei das Manuscript zu erbitten; und mit der ganzen Lapidarität, mit der sich seine Seichtheit nicht selten auszudrücken liebte, soll er kürzlich, entzückt, so weit es seine Würde zuliess, ausgerufen haben: „Man wird die Wolter

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_13.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)