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zum Chinesen ging. Die Findigkeit des Eros, mit den gegebenen Mitteln auszukommen, ist unerschöpflich. Wenn die Natur ihr Mütchen an der sozialen Welt kühlt, schont sie keines der im Staate anerkannten Vorurteile, ihr Witz macht fromme Mädchen zu Bettschwestern, und die Mission endet im Bordell. Die Autorität des Gottes Buddha hat nie als Vorwand solcher Spiele gedient. Der Chinese begeht keine Sünde, wenn er sie begeht. Er bedarf der Gewissensskrupel nicht, um in der Lust die Lust zu finden. Er ist rückständig, weil er mit den gedanklichen Schätzen, die ihm Jahrtausende gehäuft haben, noch nicht fertig wurde. Er ist zukunftsfähig und überdauert die Schäden, die in anderen Welten Medizin und Technik zusammenflicken. Er hat keine Nerven, er hat keine Furcht vor Bazillen, und ihm kann auch nichts geschehen, wenn er tot ist. Er ist ein Jongleur, der Leben und Liebe spielend mit dem Finger bewältigt, wo der Athlet keuchend seine ganze Person einsetzen muß. Er arbeitet für ein Dutzend Weiße und genießt für hundert. Er hält Genuß und Ethik auseinander und bewahrt dadurch beide vor der Krätze. Von dem, was wir Ausschweifung nennen, kehrt er an Leib und Seele unverändert zu den Normen des Tagwerks zurück, worin er sich höchstens unterbricht, um eine weiße Lady zu bedienen. Er ist unsentimental und hat nicht jenen Mangel an seelischer Ökonomie, den wir Moral nennen. Er kennt die Pflicht der Nächstenliebe nicht,

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer. Leipzig 1914, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_22.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)