Seite:De DZfG 1893 10 337.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

die zur augenblicklichen Verkleidung dienten, irre führen lassen; der wahre Sinn der Adresse, und noch mehr der sie begleitenden Reden liegt am Tage. Die Ständeversammlung soll kein Werk der königlichen Gunst, keine reine Frucht der königlichen Sorgfalt und Weisheit sein, sie ist ein wohlgegründetes Recht der Nation; und dem Könige bleibt nur das Verdienst, diesem Rechte gehuldigt zu haben. Die Baiern haben ihre Unmündigkeit abgestreift; die Rednerbühne ist „das Symbol ihrer politischen Mündigkeit, die Verkünderin ihrer politischen Wiedergeburt“ – ihre gerechten Ansprüche sind endlich anerkannt; der für jetzt noch enge gezogene Kreis der Volksvertreter wird zur rechten Zeit seine Erweiterung finden; Volk und Thron, Thron und Volk sind wechselseitig durch einander bedingte Gewalten, die von dem Bürger des freigewordenen Staates gleiche Rücksicht, gleiche Ehrfurcht, vermuthlich auch bald gleichen Gehorsam zu fordern haben. – Auf diesem Boden steigt das neue Baierische Staatsrecht empor.

6. Die Regierung hätte die Deputirtenkammer sogleich mit praktischen Verhandlungen, officiellen Vorträgen, Gesetzesentwürfen oder andern positiven Arbeiten beschäftigen, – oder, wenn dieses sich nicht thun liess, nachdem die Wahl der Ausschüsse vollendet war, sie unter irgend einem schicklichen Vorwande vertagen sollen. Dass die erste eigentliche Sitzung mit einer tumultuarischen, unanständigen Debatte über elende Petitionen begann; dass die darauf folgenden bis zur Ueberreichung des Budgets fast keinen positiven Gegenstand zum Zwecke hatten, mithin ausschliessend eiteln Declamationen, unzeitigen Vorschlägen und verfänglichen Wortstreitigkeiten gewidmet werden konnten, war ein sehr grosses Uebel. Den Schaden, den diese ersten Sitzungen gestiftet haben, wird die Regierung lange und empfindlich fühlen. Hier haben die Irrlehrer und Volksverführer ihre ersten Waffen versucht; hier wurde bei einer Stelle der Adresse, wo von „Rechten der Krone“, und zwar im rein-politischen Sinne die Rede war, der Zusatz „und der Nation“ verlangt; und die Bemerkung, dass in den diplomatischen Verhältnissen der König der Repräsentant der Nation sei, durch einen Deputirten beantwortet, der die Unbescheidenheit so weit trieb, zu sagen: „diesen Grundsatz habe auch Napoleon gehabt, aber zum Unglück des Volks“. Noch niederschlagender als selbst dieser Frevel war das Resultat, dass der ungebührliche Zusatz mit sehr grosser Stimmenmehrheit durchging. – Einen ähnlichen Gang nahmen die rein-demagogischen Motionen über die Oeffentlichkeit der Verhandlungen. – Der Angriff eines Deputirten gegen die Kammer der Reichsräthe scheint nach schweren Kämpfen zuletzt ohne wesentliche Folgen geblieben zu sein.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1893, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1893_10_337.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)