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Das psychologische Interesse ist es auch, welches bei den nicht wenigen Anekdoten obwaltet, die gelegentlich vorgebracht werden. In der Art, wie Aristoteles Anekdoten einflicht, liegt nichts, was eines grossen Denkers unwürdig wäre. Er erwähnt unter Anderem eine Aeusserung des Tyrannen Iason[1], ihn hungere, wenn er nicht regieren könne; damit will der Philosoph ein Beispiel geben von Menschen, denen es ihrer Natur nach unmöglich ist, sich normalen Lebensbedingungen anzubequemen. In diesem wie in den zahlreichen ähnlichen Fällen wird eine Anekdote nicht aus stofflichem oder novellistischem Interesse erzählt, nicht etwa, um den strengen Gedankengang durch belustigende Zuthaten zu unterbrechen, sondern stets, um psychologische Reflexionen an sie anzuknüpfen. Ueberwiegend beschäftigen sich diese Reflexionen mit denjenigen Seiten der menschlichen Natur, die in allen Gesellschaftsschichten gleichmässig zur Geltung kommen. Daneben aber wird auch der Einfluss untersucht, welchen die Verschiedenheit der äusseren Lebenslage auf Geist und Gemüth ausübt. So beobachtet Aristoteles, dass in den niederen Classen der Bevölkerung kriegerische Tapferkeit mehr zu Hause ist, als irgend eine andere Charaktertugend[2], und eine zweite Eigenthümlichkeit dieser Classen sieht er darin, dass sie sich weniger durch politischen Ehrgeiz, der bei den höheren Ständen eine grosse Rolle spielt, als durch materielle Interessen in ihren Handlungen bestimmen lassen[3]. Den kriegerischen Sinn findet er allerdings etwas abgeschwächt, seit die Kunst der Rede ausgebildet ist und in den Volksversammlungen Erfolge erzielt; vorher konnte man nur durch kriegerische Verdienste die Gunst der Masse gewinnen, und nur solche wurden Volksführer, die sich als Heerführer bewährt hatten[4].

Da Aristoteles in Kampflust und Erwerbstrieb diejenigen Seelenkräfte erkennt, welche bei der Mehrzahl der Menschen alle anderen Factoren überwiegen, ist es eine einfache Consequenz, dass er seine Aufmerksamkeit darauf richtet, in welcher Weise das politische Leben eines Volkes von seinen militärischen und wirthschaftlichen Verhältnissen abhängig ist. Er beobachtet, wie Reiterheer und Oligarchie, schweres Fussvolk und gemässigte

  1. III, 1275 a 25.
  2. III, 1279 b 1.
  3. VI, 1318 b 17.
  4. V, 1305 a 8 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_020.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)