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vom Staate der Athener aber sind die angesehensten Deutschen Philologen eher geneigt, ihre Hochachtung vor den Leistungen des Philosophen herabzustimmen, als ihm die Autorschaft des neu entdeckten Buches abzusprechen. So gibt man ein werthvolles Gut leichten Herzens preis, während man ein werthloses mit Zähigkeit festhält. Werthlos ist der Name Aristoteles, wenn er nicht mehr den Gehalt der durch ihn gedeckten Sache verbürgt. Aber den verbürgt er nicht mehr, wenn ein so unbedeutendes Werkchen wie die Londoner Schrift von Aristoteles verfasst werden konnte. Ein werthvolles Stück unserer bisherigen Anschauung von Aristoteles war die Gewissheit, dass seine Theorien auf gründlichen Detailstudien, auch historischen Inhaltes, beruhten. Diese Ansicht opfert, wer in der Schrift vom Staate der Athener eine Probe Aristotelischer Forschung sieht. Dass wir unsere Gesammtansicht von Aristoteles nach dieser Probe zu berichtigen haben, behauptet mit Entschiedenheit Niese[1]. Er trägt kein Bedenken, auf Grund der Mängel, die in der Schrift vom Staate der Athener nachgewiesen sind und die er rückhaltlos anerkennt, Aristoteles den Namen eines grossen Historikers abzusprechen. Ehe wir uns entschliessen können, diesem Urtheile beizustimmen, müssen wir die Frage prüfen, ob denn die Schrift, für die man den Philosophen verantwortlich macht, wirklich von ihm verfasst ist.

Das Alterthum allerdings war hierüber nicht zweifelhaft. Aber wer mit der Berufung auf dieses Zeugniss die Autorschaft des Stagiriten bewiesen zu haben meint, der macht es nicht anders, als wer es ablehnen wollte, nach den Verfassern einzelner unter dem Namen des Hippokrates überlieferter Schriften zu fragen, weil Hippokrates als Verfasser bezeugt sei. Unter den Büchern, die in den alten Verzeichnissen der Werke des Aristoteles aufgeführt sind und die der übereinstimmende Glaube des Alterthums ihm zuschrieb, sind mehrere, die von der heutigen Wissenschaft mit gleicher Uebereinstimmung für nicht-aristotelisch erklärt werden. Bei Plato steht es nicht anders. Und dass gerade die Ueberlieferung, nach welcher die Schrift vom Staate der Athener ebenso wie die gleichartigen Schriften über andere Staaten von Aristoteles verfasst sein sollen, für uns nicht massgebend sein darf,

  1. Gött. gel. Anzeigen 1. Okt. 1891.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_012.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)