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mehr aus frommem Gemüth wie dichterischer Intuition geboren stellt es den Inhalt der Evangelien in treuer Folge dar – bis es, in völliger Abweichung von seinen Lateinischen Vorlagen, in der frei erfundenen Darstellung der Wiederkunft Christi und des jüngsten Gerichtes endet.

Der handgreiflich auf einstige Abrechnung im Jenseits gerichtete Zug eines schon specifisch Germanischen Glaubens spricht aus der Erweiterung. Das wird klar, wenn man sieht, wie Muspilli gerade dies Problem behandelt, jenes merkwürdige Gedicht, das sich auf den leeren Seiten einer einst im Besitze Ludwigs des Deutschen befindlichen Handschrift gefunden. Es spricht vom Schicksal der Seele nach dem Tode. Nachdem die Seele den Leib verlassen, streiten sich um sie die Heerschaaren des Sternenhimmels und die Gewaltigen des höllischen Pfuhles: und bang harrt die Seele des Ausgangs. Da naht das jüngste Gericht, eingeleitet durch einen Kampf des Propheten Elias mit dem Entchrist. Das Blut des verwundeten Propheten trauft zur Erde: da entsteht der Weltbrand: Feuer ergreift Erde und Himmel und Meer; der Mond fällt herab: der Straftag fährt über’s Land, die Menschen heimzusuchen – und die Seele harret des Urtheils. Des Himmels Drommete ertönt; der Weltrichter zieht zur Wahlstatt; die Engel ziehen über die Lande, die Todten zu wecken. Da muss erscheinen Jeder der Menschen: „da soll die Hand sprechen, das Haupt sagen, aller Glieder jegliches bis zum kleinen Finger, was es Böses that unter den Menschen“…

Zwei Jahrzehnte etwa nach der Niederschrift des Muspilli, im J. 864, lag der Sachsenfürst Liudolf im Sterben. In seinen letzten Phantasien ringt auch er mit der Vorstellung des jüngsten Gerichtes. Schon glaubt er hinabzustürzen in die Tiefe des Abgrundes, da erfasst er mit beiden Händen einen Zweig und wird gerettet; einem Vernichtung kündenden Rufe antwortet er, seine Hoffnung stehe auf Gott. Da sieht er einen himmelstrebenden Baum mit breitem Gezweige: es ist sein zukünftig Geschlecht: herrlich wird es blühen vor aller Welt, Gott wohlgefällig, das Haus der kaiserlichen Ottonen.

Sehr massiv mischt sich in diesem Erguss einer hochgemuthen Germanischen Seele um die Mitte des 9. Jhs. noch Geistliches und Weltliches; nur das concreteste Erfassen des neuen Glaubens erklärt den Zusammenhang dieser religiös-dynastischen Vision.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_028.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)