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sei, klingt in dem Munde eines Historikers doch recht befremdlich und scheint mir lediglich ein trauriger Beleg für den Missbrauch der gegenwärtig nur zu oft mit dem Worte „wissenschaftlich“ getrieben wird. Heute wie zu Humboldt’s Zeit muss der Historiker die philosophische Grundlage aller principiellen Erörterungen über seine Wissenschaft in den Schriften jener Denker aufsuchen, welche die Arbeit eines ganzen Lebens daransetzen, um zur Erkenntniss der letzten Fragen des Daseins zu gelangen, und wenn wir, wie es sich für den Historiker geziemt, der philosophischen Bewegung in erster Linie mit rein historischem Interesse folgen, so müssen wir doch sagen, Humboldt that wohl daran, sich auf die Kant’sche Philosophie zu stützen. Nur darnach dürfen wir fragen, an welcher Stelle seiner Abhandlung Humboldt Kant ins Treffen führt, und erst nach Beantwortung dieser Frage wird sich entscheiden lassen, ob es gestattet ist, wie Lorenz es thut, von einem Systeme von Ideen bei Humboldt zu reden.

Die Stelle, wo auf Kant zurückgegangen wird, betrifft aber den Zusammenhang der Entwicklung des Einzelindividuums und der Gattung. Nach Kant sollte eine vollkommen abgeschlossene Entwicklung nur der Gattung zu Theil werden. Auf der anderen Seite war Herder für die Rechte des Individualismus eingetreten, und so hatte man hin und her gestritten, bis endlich in Hegel’s Geschichtsphilosophie das individuelle Moment gänzlich unterdrückt wurde. Dass aber Humboldt zur nämlichen Zeit wie Hegel im Gegensatz zu sämmtlichen Geschichtsphilosophen und doch von idealistischen Voraussetzungen aus zu einer Ansicht gelangte, bei der weder die Gattung noch das Einzelindividuum zu kurz kamen, sichert ihm seine Stellung am Ende der Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus, so wie ihn der mit Kant’schen Waffen erfolgreich durchgeführte Angriff auf die teleologischen Geschichtsconstructionen der Deutschen Philosophie an den Anfang einer neuen Entwicklungsphase unserer Wissenschaft stellt.

Dem Freunde Schiller’s und Goethe’s war es vergönnt gewesen, aus der unmittelbaren Anschauung des Genies sein Ideal freier, schöner Menschlichkeit zu schöpfen, aber vor einem romantischen Geniecultus bewahrten ihn schon seine Sprachstudien, welche ihn das Genie der Nationen in seiner schöpferischen

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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_248.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2023)