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hat[1]. Die construirende Geschichtschreibung aber wird in der Regel einseitig und häufig willkürlich; die unendliche Mannigfaltigkeit der im Leben der Völker und der Einzelnen wirkenden Kräfte tritt nicht in die Betrachtung und die Persönlichkeiten erscheinen nicht in ihrer Eigenart, sondern nur als – mitunter geradezu automatenhafte – Vertreter von Bewegungen und Gedanken, oder werden mit der umfassenden Einsicht und dem zielbewussten Streben, welche dem späteren Geschichtschreiber selbst eigen sind, ausgestattet[2].

Vielleicht möchte es sich daher empfehlen, die Forschungsweise der Naturwissenschaften auch auf die Geschichte anzuwenden. Ich meine hiermit nicht jene angeblich naturwissenschaftliche Methode, welche jedes Zielstreben, jeden einheitlichen Fortschritt in den Entwicklungen leugnet; diese Methode ist doch im Grunde wohl nichts anderes als das alte theologisch-philosophische Recept in verneinender Ausfertigung und sie urtheilt über eine Frage, welche der menschliche Verstand vermuthlich nie zu entscheiden im Stande sein wird. Ich denke auch nicht an jene Methode, welche die Naturentwicklung durch innere Gesetze unabweichbar und mit zwingender Nothwendigkeit bestimmt werden lässt, denn für die Geschichte erscheint die Annahme einer solchen Gesetzmässigkeit durch die Thatsache der menschlichen Willensthätigkeit ausgeschlossen. Was ich im Auge habe, ist vielmehr die empirische Forschungsweise, die Methode, ganz voraussetzungslos in die Untersuchung einzutreten und erst auf Grund möglichst zahlreicher, durch prüfende Beobachtung gewonnener Thatsachen Schlüsse zu ziehen, dann aber auch sich nicht mehr durch „Autoritäten“ binden zu lassen und die Erscheinungen in ihrer Ganzheit und in ihrem organischen Zusammenhange mit anderen aufzufassen. Wie diese Methode den Naturwissenschaften ihre grossartigen Erfolge verlieh, so würde sie wohl auch der Geschichte reiche Früchte zeitigen und

  1. Sehr bezeichnende Belege hierfür bietet mein: Oberösterreichischer Bauernaufstand des Jahres 1626. Bd. I S. XIX ff.
  2. Was für gewaltige Staatsmänner hat man z. B. aus dem phantastischen Träumer Karl V. und dem beschränkten Ferdinand II. gemacht, und wie wenig rechnet man überhaupt mit der Unwissenheit, dem Unverstand und den aus Stimmungen und Zufälligkeiten entspringenden Willensbeirrungen politischer Persönlichkeiten!
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_041.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2023)