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Recht hätten[1]. Darum wird aber natürlich Niemand die Französische Nation als solche für das damals Geschehene verantwortlich machen wollen: der Träger der absoluten Gewalt, in dem der Französische Staat jener Zeit sich verkörperte, gilt als der Urheber von Unmenschlichkeiten, die in der Weltgeschichte kaum ihresgleichen haben. Nun weiss man ja aber, wie wenig Ludwig XIV. trotz der berauschenden Schrankenlosigkeit seiner Machtfülle thatsächlich die eigentlich Ausschlag gebende Instanz in Frankreich war, wie er vielmehr im Widerspruch mit dem glänzenden Schein allgebietenden Selbstherrschens in grossen wie in kleinen Dingen von seiner Umgebung abhing und nur allzu häufig die Gedanken anderer ausführte, als ob sie in ihm selbst entsprungen wären, und seine Autorität für den ihm untergeschobenen Willen anderer einsetzte, als ob er sein eigenes souveränes Belieben verwirklichte.

Auch der grosse Krieg von 1688 bis 1697, in dem Frankreich durch den frevelhaften Bruch des Stillstands von 1684 zum erstenmale eine Vereinigung der meisten Europäischen Mächte gegen sich in die Waffen rief, wird in diesem Sinne nicht eigentlich als ein Werk Ludwig’s selbst zu bezeichnen sein: gerade bei dieser verhängnissvollen Wendung seiner Politik sah der König ganz mit den Augen Louvois’ und ging ganz den Weg, den dieser ihm vorzeichnete. Wenn freilich der fabulirende Saint Simon Louvois diesen Krieg nur desshalb heraufbeschwören liess, weil der Tadel wegen eines misslungenen Fensters am Schlossbau zu Trianon ihn für seine Stellung fürchten liess, so ist diese Anekdote längst in ihrer Unhaltbarkeit erkannt worden. Nicht um seiner persönlichen Vortheile willen hat Louvois Frankreich in den Kampf gestürzt, mit dem sein Ruin begann: aus unruhigem Thatendrang und rücksichtsloser Eroberungslust, erfüllt von dem Glauben an die Unerschöpflichkeit der Mittel seines Landes und seines eigenen Genies, nicht minder aber in verblendeter Verachtung der so oft überwundenen Gegner hat er den König mit sich fortgerissen, indem er dessen Eitelkeit und Machtbegierde die Hindernisse, die sich der Erreichung seiner Ziele entgegenstellten,

  1. Mémoires de Lafayette bei Petitot, Collection. 2e Série LXV S. 94: d’abandonner les places et de les laisser dans leur entier, c’était presque mettre les ennemis du Roi dans son pays.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1890, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_04_240.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)