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gemeinsame Ziel aller unserer heutigen Geschichtschreibung. Eine subjective d. h. verstandeskritische Geschichtschreibung im Sinne des 18. Jahrhunderts – im unsrigen noch von Schlosser mit so grossem Erfolge vertreten – ist heute wissenschaftlich unmöglich. Alle unsere Forschung ruht auf dem Boden der genetischen Denkweise, ist darum ihrem Grundcharakter nach objectiv. Ein Principienstreit über diese Frage ist heute gegenstandslos, wenn auch selbstverständlich die grossen individuellen Unterschiede der schriftstellerischen Charaktere darum nicht verschwunden sind oder je verschwinden werden. Aber mag der eine den reinen Entwicklungsprocess als solchen, der andere die Werthbeurtheilung in den Vordergrund stellen, – dennoch stehen beide auf demselben Boden und ringen nach demselben Ziel. Was sie scheidet, sind keine sachlichen Gegensätze, sondern nur die Gradesunterschiede, die individuellen Abstufungen einer und derselben wissenschaftlichen Anschauung.

Alles Geschehene als ein Gewordenes zu erfassen, schwebt unseren Bestrebungen als letztes Ziel vor. Wir sind uns aber – noch einmal sei es gesagt – vollkommen bewusst, dass dieses Ziel unerreichbar ist. Um die Entwicklung der Menschengeschichte rein auffassen und wiedergeben zu können, müssten wir einen Standpunkt ausserhalb dieser Welt haben, nicht selber Menschen sein. Wir wissen, wie unser Urtheil so häufig trübend und irreführend unserer Erkenntniss vorgreift und sie in falsche Bahnen lenkt. Dass unser Material lückenhaft, unser Wissen Stückwerk ist, predigt uns jeder Tag. Es wäre unter diesen Umständen mehr als gewagt, wenn wir versuchen wollten, wie dies in der That verlangt worden ist, nach Analogie der Naturwissenschaften zu bestimmten Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung zu gelangen. Gibt es solche Gesetze der Entwicklung und des Fortschritts in der Geschichte – und wir können uns den Verlauf der Dinge ohne sie nicht vorstellen –, so sind sie jedenfalls für uns nur ein Gegenstand des Ahnens, der philosophischen Speculation und des religiösen Glaubens, nicht des Wissens und Schauens. Jede Zeit und jedes Volk, jede Religion und Philosophie legt das eigene Lebensideal dem Gang der Geschichte als Ziel des Fortschritts unter, die historische Wissenschaft als solche kennt kein solches Ideal. Von dem Strom, in welchem wir dahingetragen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_02_036.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)