Seite:De DZfG 1889 01 301.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mit bis ins Einzelne geordneter Seelsorge zu betrachten. Doch war es gerade der Druck der äusseren Verhältnisse, welcher die Gläubigen der Secte als „Kunden“ oder „Freunde“ und als Glieder der „wahren Kirche Christi“ gegenüber den Katholiken enge aneinander schloss und das religiöse Element zu dem alles Andere beherrschenden Mittelpunkt in dem Leben jener österreichischen Bauern und Handwerker werden liess. „Alle Leonisten, Männer und Frauen, Gross und Klein“, so klagt der Anonymus, „lernen und lehren unablässig, bei Tag und bei Nacht; der Handwerker widmet den Tag seiner Arbeit, die Nacht religiöser Belehrung, so dass für das Beten wenig Zeit übrig bleibt; Neubekehrte suchen schon nach einigen Tagen auch Andere zur Secte zu ziehen.“ Wir sehen, der lockere Verband, der anderwärts die waldensischen Gläubigen mit den ursprünglich die eigentliche Secte bildenden „Vollkommenen“, den Reisepredigern, verknüpft, ist hier bereits zu einer engen kirchlichen Gemeinschaft, welche auch die Keime wirklicher Gemeindebildung in sich schliesst, umgestaltet. An der Spitze der österreichischen Waldenser ist wohl der nach dem Zeugniss des Anonymus in Anzbach in Niederösterreich residirende Bischof gestanden; aber auch mit der Centralleitung der lombardisch-waldensischen Secte wurden Verbindungen unterhalten und den „Bischöfen“ in der Lombardei Collecten zugeführt[1].

In erster Linie war es wohl die sittliche Reinheit und Strenge der waldensischen Meister und ihrer Gläubigen und deren Contrast zu der von Zeitgenossen aufs schärfste getadelten Verwilderung des damaligen katholischen Klerus, welche der Verbreitung der Secte Vorschub leistete: von unserem Passauer Anonymus wird tadellose Lebensführung geradezu ein verdächtiges Kennzeichen der „Leonisten“ genannt. Gleichwohl ist die Secte nicht nur auf die „Stillen im Lande“ beschränkt geblieben, sondern ist offenbar mehr und mehr der Mittelpunkt auch für weit radicalere Strömungen der volksthümlichen religiösen Opposition geworden. Bereits ganz taboritisch klingt die von dem

  1. Bibl. max. XXV, S. 263 H, ib. 266 C: item peregrinantur et ita Lombardiam intrantes visitant episcopos suos. ib. 274 A (Frageformular für die Inquirirung von Waldensern): an unquam collectas fecerit fratribus in Lombardia? ib. S. 264 D: item Emzempach (Preger: Einzinspach) et ibi scholae et episcopus.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_01_301.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2022)