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Zum 42. Brief.

Bei dem kurz dauernden Bau, bei der Anpflanzung einer Grasart, oder weniger Arten vereinigt, kommt wesentlich die Natur der Grasart in Betracht, bei der Grasnarbe nicht. Gleich wie die einzeln stehenden Buchen einen weiten Raum überdecken, nahe dem Boden ihre reich belaubten Aeste ausbreitend, während dieselben im geschlossenen Stande säulengleich anstreben, nahe an einander gerückt, sich nur am Gipfel mit Aesten und Laub bekleiden, so schmiegt sich in der Narbe der natürlichen Wiesen Pflanze neben Pflanze, ihren Bau verändernd, indem sie sich der Nothwendigkeit fügt.

Grasarten, die dies im geringeren Masse thun, wie das Honiggras (Holcus lanatus L.), sind um deswillen schlechtere Wiesenpflanzen, während andere, sonst grobbuschige, wie Knaulgras (Dactylis glomerata L.) und selbst die Rasenschmiele (Aira caespitosa L.), nur bei schlechter Narbe grosse Einzelnrasen bilden.

Im Frühjahr 1857 untersuchte ich ein Stück ganz neugebildeten Rasens, der höchst fein und dicht war, von dem Vorlande eines der Entwässerung einer grösseren Wiesenfläche dienenden Grabens; es fanden sich auf 11,85 Quadratzoll hess. 265 Gräser, zu gleicher Zeit zählte ein der Wässerungswiese entnommener älterer Rasen auf 14,4 Quadratzoll 210 Gräser, 12 andere Pflanzen, ein anderes Stück von 13,29 Quadratzoll 150 Gräser, 25 andere Pflanzen.

Schon diese hohen Zahlen geben mir Gewissheit, meine Annahme, dass nur ein kleinerer Theil des Bestandes sich in einem Jahre vollständig entwickle, dass ein Wechsel der Pflanzen statthabe nach den veränderten Einflüssen der Atmosphäre und des Bodens, sei richtig, wie dies Thaer als von Anderen beobachtet angiebt, und Schwerz wie es scheint, ebenfalls erkannt hat.

Es ist bekannt, dass viele Pflanzen, wenn eine Bedingung aufhört, die zu ihrer vollkommenen Entwickelung dient, wie z. B. wenn der Schatten des heranwachsenden Waldes zu stark oder eine zu starke Lichtung das Gedeihen einer oder mehrerer Pflanzen hindert, Jahre lang sich erhalten durch Fortbildung des Wurzelstockes, in einer niederen Stufe des Wachsthums gleichsam harrend, bis wieder günstigere Verhältnisse eintreten.

So bekleidet sich der Boden abgehackter Waldstellen sogleich mit Gewächsen, von denen viele mehrjährig, wie die Himbeere, nicht aus Samen habe erwachsen können. Ich habe nachgewiesen, dass dies Verhältniss ein sehr verbreitetes ist, und nicht allein da statt hat, wo so wesentliche Störungen eintreten, dass es insbesondere für die Gräser gilt und von grösster Bedeutung für den Wiesenbau ist.

Jedermann weiss, dass Asche die Kleepflanzen (welche wie die Gräser nicht im ersten Jahre zur Blüthe kommen) hervorruft, ebenso, dass nach Düngung sich auf der Wiese andere Grasarten zeigen. Ich beobachtete das fast ausschliessliche Erscheinen einer Grasart, französisches Raygras (Arrhenatherum avenaceum), nach Düngung mit sogenanntem sauren phosphorsauren Kalke, welches auf dem gedüngten Stücke Halm an Halm

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_477.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)