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Die Erlernung eines technischen Betriebs ist etwas anderes als die Erwerbung einer Kunstfertigkeit, wozu Uebung gehört; der Schüler einer Kunstakademie sieht von Tag zu Tag, ob er einen Fortschritt gemacht hat und dies giebt ihm den nöthigen Muth, der den Eifer weckt und den Fleiss beharrlich macht; der auf einer landwirthschaftlichen Akademie hat kein Maass, an dem er sehen kann, dass seine technischen Kenntnisse zugenommen haben – es fehlt der Sporn, und alle Nacheiferung hört auf.

Der Besuch einer Universität oder einer polytechnischen Schule und dann der einer Anstalt, wo sie die Grundsätze des Wirthschaftsbetriebs im Grossen und nebenbei das Handwerk erlernen, vereinigt Alles, was ein junger Landwirth zu seiner Ausbildung erstreben kann.

Wenn man sich nun denkt, dass die Mehrzahl der landwirthschaftlichen Akademien seit einem Menschenalter zum Theil von Männern geleitet worden sind, die von Chemie, Physik, Botanik, Geognosie etc. keine Vorstellungen haben, so sieht man ein, dass sie weit mehr Schulen des Müssiggangs und des Widerstandes als des Fortschritts gewesen sind.

Der gegenwärtig herrschende Streit über die wissenschaftlichen Grundsätze und ihre Anwendung in der Landwirthschaft ist das Werk dieser Schulen und Niemand kann sich darüber wundern, wenn der praktische Mann mit Geringschätzung, ja mit Verachtung auf die Wissenschaft herabsieht. Von woher sollte er ihre Schätzung und ihre Achtung haben, da diese in ihrem Verständniss allein gesucht werden kann.

Ich bin willig und bereit jedes Wort zurückzunehmen, das ich gegen diese Anstalten gesagt, wenn Jemand in anderer Weise das Räthsel löst, welches in dem gegenseitigen Missverhältniss der landwirthschaftlichen und wissenschaftlichen Lehren offenkundig vorliegt. Die letzteren umfassen nicht die Grundsätze, die ein einzelner Mann erdacht hat, sondern sie sind die Grundsätze aller Wissenschaften; sie werden getheilt von allen Chemikern und Physikern, von allen Naturforschern und Mathematikern, weil sie nur Ausdrücke der Methode sind, der sie selbst alle ihre Erfolge verdanken.

Alle praktischen Männer sind in einem Punkt mit einander einig, dass sie nämlich um einer Lehre willen ihren Betrieb nicht ändern dürften, auch wenn sie noch so wahrscheinlich sei; erst müsse man sie von ihrer Wahrheit überzeugen, dann falle ihr Widerstand von selbst hinweg. Diese Einsprache wäre verständig genug, wenn in der Lehre etwas läge, was denkbarerweise ihnen Schaden bringen könnte; aber ihr Widerstand ist nicht gegen die Lehre, sondern gegen den gesunden Menschenverstand gerichtet und keine Wissenschaft der Welt vermag einen solchen Widerstand zu besiegen.

Der Kern der chemischen Lehre ist so einfach, und was man den Landwirthen zumuthet, liegt so sehr in ihrem eigenen Interesse, dass einem jeden Unbefangenen nur ihr Widerspruch unbegreiflich ist.

Die Wissenschaft hat auf sich genommen, was die Praxis ihrem Wesen nach nicht konnte; sie hat den Boden, die Luft, die Thier- und Menschenexcremente, jede Wurzel, die Blätter, Halme, die Samen, Früchte und Knollen, das Blut und Fleisch der Thiere, kurz Alles untersucht, was die Organismen an verbrennlichen und unverbrennlichen Bestandtheilen enthalten und was bei ihrer Erzeugung in Betracht

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_456.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)