Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 455.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Der technische Betrieb kann erlernt, und nur Grundsätze können gelehrt werden. Um das Handwerk zu lernen, muss der Landwirth in die Lehre und um seinen Geist zu bilden, muss er in die Schule gehen.

Eine Vereinigung von Beiden ist unmöglich, nur ein Nacheinander ist möglich. Ich habe in Giessen eine Schule für praktische Chemie, für Analyse und was damit zusammenhängt geleitet, und eine dreissigjährige Erfahrung hat mich gelehrt, dass bei einer Verschmelzung der Lehre mit der Praxis nichts erreicht wird. Ein Studirender, der sich der Chemie widmet und die Vorlesungen und das Laboratorium gleichzeitig besucht, giebt den Zweck seines Aufenthalts auf der Lehranstalt geradezu auf und ist dafür verloren. Erst nach der völligen Beendigung des Besuchs der theoretischen Vorträge, kann er mit Nutzen sich der Praxis widmen; er muss die Grundsätze derselben in das Laboratorium mitbringen, denn sonst versteht er die Praxis nicht: weiss er sie nicht, so muss er ausgewiesen werden.

In allen naturwissenschaftlichen, überhaupt in allen Gewerben, deren Ausübung nicht auf einer manuellen Geschicklichkeit beruht, ist der Fortschritt und eine jede Verbesserung bedingt durch die Entwickelung der geistigen Fähigkeiten, d. h. durch die Schule; ein mit gründlichen wissenschaftlichen Kenntnissen wohlausgerüsteter junger Mann eignet sich die Bekanntschaft mit dem technischen Betrieb leicht und ohne Anstrengung an; dem am besten technisch Gebildeten ist das Verständniss jedes neuen ihm noch nicht vorgekommenen Falles oder eines wissenschaftlichen Grundsatzes und dessen Anwendung in der Regel geradezu unmöglich.

Ich habe häufig gefunden, dass Studirende, die von guten Gymnasien kommen, sehr bald die von Gewerb- und polytechnischen Schulen auch in den Naturwissenschaften weit hinter sich zurücklassen, selbst wenn die letzteren anfänglich im Wissen gegen die anderen wie Riesen gegen Zwerge waren.

Ich bin weit entfernt, den ausserordentlichen Nutzen, den die Gewerb- und technischen Schulen für uns haben, in irgend einer Weise in Zweifel zu ziehen; ich halte sie für eben so unentbehrlich wie die Gymnasien, denn für alle Menschen passt nicht der gleiche Weg, und die Sprachen sind nicht Jedermanns Sache; für so vielerlei Erz bedarf man zum Ausschmelzen des Metalls und zu seiner Reinigung von Schlacken mehrerlei Oefen, und das Talent ist wie das Gold – wo es vorkommt in der Natur, ist es immer gediegen, nie vererzt und jeder Ofen ist ihm recht.

Auf den landwirthschaftlichen Akademien liegt das Handwerk stets mit der Schule im Streit, und wenn eine neue Säemaschine, oder ein Pflug, oder sonst etwas probirt wird, so sind die Lehrsäle der Chemie, Physik etc. leer; die Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaft sind mehrentheils auf unseren Universitäten gebildete, und wie man nicht anders erwarten kann, tüchtige und wissenschaftliche Leute: aber das Handwerk beherrscht ihre Erfolge, sie werden bald entmuthigt, und von einem gründlichen Unterricht in den Naturwissenschaften kann unter diesen Verhältnissen gar nicht die Rede sein. Ich bin bis jetzt noch keinem auf diesen Anstalten Gebildeten begegnet, der eine richtige Vorstellung vom Thau hatte, oder der die Samen der Wiesengräser oder die Gräser auf einer Wiese zu unterscheiden vermochte.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_455.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)