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Die Landwirthschaft ist das an Thatsachen reichste und am Verständniss derselben ärmste unter allen Gewerben; die Thatsachen sind Sandkörner welche der Wind verweht, in dem Grundsatz sind die Sandkörner zum Felsen zusammengefügt. Die Thatsache sagt an sich nur, dass sie da ist, in der Erfahrung soll sie sagen warum sie da ist.

Die Wissenschaft ist ihrer Natur nach erhaltend, nicht zerstörend; die in der Praxis erkannten Wahrheiten werden von der Wissenschaft nicht verworfen, sondern von ihr aufgenommen; sie werden von ihr niemals widersprochen, sondern auf den richtigen Ausdruck gebracht und weiter ausgedehnt, und so kann die Wissenschaft in der Praxis keine Umwälzung hervorbringen, sondern sie ist der Weg zu einer Aufeinanderfolge von Fortentwickelungen, von denen eine immer die andere in sich aufnimmt.

Der moderne Ackerbau hat Methoden und Betriebsysteme, aber keine Grundsätze, ihm fehlt das „Wissen“; nach so vielen tausend Jahren weiss auch der beste, erfahrenste unter den Landwirthen nicht, welcher Mist der beste sei; unter welchen Umständen der frische oder der alte Mist!

Mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen steht bis jetzt der moderne Ackerbau ausser aller Verbindung; wenn sie der Spiegel seiner Irrthümer und Fehler ist, so ist sie auch der seines Fortschritts. Der moderne Ackerbau weiss nichts von Fehlern, und darum weiss er nichts vom Fortschritt.

Wenn die Entwicklung des Menschengeschlechts in der Geschichte für die Landwirthschaft existirte, oder wenn die Lehrer derselben sich daran unterrichten wollten, so würde der Landwirth wissen, dass bereits vor zweitausend Jahren die erleuchtetsten und ausgezeichnetsten Männer Roms den damaligen Feldbau von allen den Schwierigkeiten bedrängt sahen, welche ihn heute bedrohen, und dass das nämliche System des intensiven Feldbaues, dass unsere modernen Lehrer für das beste halten und empfehlen, schon damals, und ohne die Uebel zu heilen, versucht worden ist.

Die folgenden Notizen, die ich aus Columella, Cato, Virgil, Varro und Plinius entnehme, dürften geeignet sein dem Landwirth über seinen praktischen Standpunkt die Augen zu öffnen, und wie Alles was sein moderner Lehrer ihn lehrt, lauter Dinge sind, die man vor zweitausend Jahren schon eben so gut, oft weit besser wusste. Wenn man die zwölf Bücher von Columella liest, und mit unsern Handbüchern der praktischen Landwirthschaft vergleicht, so hat man das Gefühl, wie wenn man aus einer dürren Einöde in einen schönen Garten tritt, so frisch und anmuthig ist Alles.

In seiner Vorrede an Publius Silvinius sagt Collumella: „Die Grossen des Staates pflegen bald über die Unfruchtbarkeit der Aecker, bald über die unbeständige Witterung zu klagen, welche nun schon seit geraumer Zeit den Früchten nachtheilig gewesen ist; Andere meinen der Boden sei durch die allzu grosse Fruchtbarkeit der vorigen Zeiten erschöpft und kraftlos geworden. Aber, fährt er fort, kein Vernünftiger werde sich überreden lassen, die Erde sei, wie wir Menschen, veraltet;

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_445.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)