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Wenn auf einer Quadratmeile solchen Landes 2 bis 3000 Menschen wohnen, so ist ein Export von Korn und Fleisch nicht möglich, denn die erzeugten Feldfrüchte reichen nur hin, um diese Bevölkerung zu ernähren; ein Ueberschuss, welcher ausgeführt werden könnte, ist nicht oder nur selten vorhanden. Die Fruchtbarkeit eines solchen Landes erhält sich in dem regelmässigen Kreislauf ihrer Bedingungen. Alle Bodenbestandtheile der verzehrten Producte kehren ohne Verlust auf die Felder zurück, auf denen sie erzeugt worden sind. Nichts davon geht verloren, denn Jeder weiss was er daran verliert, Jeder ist besorgt zu erhalten und zu sammeln.

Denkt man sich dasselbe Land in den Händen von 10 grossen Grundbesitzern, so tritt der Raub an die Stelle des Ersatzes. Der kleine Grundeigenthümer ersetzt dem Felde nahezu vollständig, was er demselben nimmt, der grosse führt Korn und Fleisch den grossen Mittelpunkten des Verbrauchs zu, und verliert darum die Bedingungen ihrer Wiedererzeugung. Nach einer Reihe von Jahren ist dieses Land eine Einöde wie die römische Campagna.

Dies ist der naturgesetzliche Grund der Verarmung der Länder durch die Cultur; es giebt keinen andern; nur die Lehrer unserer modernen Landwirthschaft kennen diesen Grund nicht, und sind mit allen ihren Kräften bemüht, den Ruin des deutschen Feldbaues zu beschleunigen und unwiederherstellbar zu machen. Die fruchtbaren Felder sind, so lehren sie ja, unerschöpflich an den Bedingungen ihrer Fruchtbarkeit, nur an der Peitsche fehlt es, um sie in Bewegung zu setzen. In dem Guano sandte ihnen ein gütiges Geschick einen Rettungsanker in ihrer Noth, die sie durch ihre Lehre selbst verschuldet, und in ihrer unglückseligen Hand wird diese Hülfe zu einem Mittel, um in dem Verlauf der Zeit die Verarmung noch vollständiger zu machen. Aber auch diese Hülfe wird versiegen, und was dann?

So weit sind wir noch nicht, meinen Alle, welche bis jetzt noch reiche Felder und gesegnete Ernten gehabt haben, und so weit sind wir noch nicht, sagte jener Räuber, der sich bessern sollte, bis ihm der Strick um den Hals gelegt war. So weit wird es denn auch kommen müssen! Landwirthschaftliche Erfahrung mag es sein, aber Wissenschaft ist es nicht.



Achtundvierzigster Brief.


Die Geschichte der Menschheit – sagte Thaer – sei auch die des Ackerbaues; es giebt keinen Ausspruch, welcher irriger ist. Alle unsere mit den Naturwissenschaften in Verbindung stehenden Gewerbe haben eine Geschichte, nur der moderne Ackerbau nicht, denn er ist von heute, höchstens von gestern; was vor einer Woche geschah, kennt er nicht und wenn er es kennt, so macht es den Landwirth nicht weiser.

Millionen Thatsachen können sich nicht vererben, aber die wissenschaftlichen Grundsätze, welche Ausdrücke für diese Thatsachen sind, vererben sich, weil sie ihrer Natur nach unveränderlich sind.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_444.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)