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Das europäische Culturverfahren, genannt die intensive Landwirthschaft, ist nicht die rohe Beraubung des amerikanischen Farmers, mit Mord und Todtschlag des Feldes, sondern es ist ein feinerer Raub, dem man auf den ersten Blick nicht ansieht, dass es Raub ist: es ist der Raub mit Selbstbetrug, verhüllt durch ein Lehrsystem, dem der Kern der innern Wahrheit fehlt.

Der einfachste Bauernverstand sieht ein, und alle Landwirthe stimmen darin überein, dass man in einer Wirthschaft den Klee, die Rüben, das Heu etc. nicht veräussern könne ohne den entschiedensten Nachtheil für die Korncultur. Ein Jeder giebt bereitwillig zu, dass die Kleeausfuhr die Korncultur beeinträchtige: „Vor allem müssen wir Futter genug haben, dann kommt das Getreide von selbst.“ Das aber die Kornausfuhr die Kleecultur beeinträchtige, dass wir vor allem die Bodenbestandtheile des Korns zurückbringen müssen, damit der Klee von selbst kommt, d. h. dass wir, um Klee zu erzeugen, düngen müssen, diess ist ein für die meisten Landwirthe ganz unfassbarer, ja unmöglicher Gedanke. Denn man baut ja den Klee des Düngers wegen, und welcher Vortheil bliebe dann, wenn man, um Klee zu bekommen, wieder düngen müsste! Den Klee will man umsonst haben. In diesem Verkennen des Kerns aller ächten Industrie liegen alle Fehler des herrschenden Wirthschaftssystems.

Die gegenseitigen naturgesetzlichen Beziehungen beider sind aber sonnenklar. Die Aschenbestandtheile des Klees und des Korns sind die Bedingungen zur Klee- und Kornerzeugung und den Elementen nach identisch.

Der Klee braucht zu seiner Erzeugung eine gewisse Quantität Phosphorsäure, Kali, Kalk, Bittererde wie das Korn; die in dem Klee enthaltenen Bodenbestandtheile sind gleich denen des Korns plus einem gewissen Ueberschuss an Kali, Kalk und Schwefelsäure. Der Klee empfängt diese Bestandtheile vom Boden, das Halmgewächs empfängt sie – man kann es sich so denken – vom Klee. Wenn man demnach den Klee veräussert, so führt man aus die Bedingungen zur Kornerzeugung, es bleibt nichts für das Korn zurück; veräussert man das Korn, so fällt in einem folgenden Jahr eine Kleeernte aus, denn in dem Korn veräusserte man einige der unentbehrlichen Bedingungen zu einer Kleeernte.

Der Bauer drückt die Wirkung des Futtergewächses in seiner eigenen Weise aus, indem er sagt: es verstehe sich von selbst, dass man den Mist nicht verkaufen dürfe; ohne Mist sei eine dauernde Cultur nicht

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_424.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)