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sie, selbst nachdem sie über ein Jahrhundert brach gelegen, keine lohnende Ernte von einer Halmfrucht mehr liefern. So wie ein jeder europäische Landwirth den Glauben hat, dass sein Betrieb eine Ausnahme mache und besser sei als andere Betriebe, und dass seiner Erfahrung gemäss seine fruchtbaren Felder keines Ersatzes bedürfen, um in gleichem Zustand der Fruchtbarkeit zu bleiben, so glaubt auch anfänglich jeder erste Colonist, dass sein Feld für die Früchte, die er zieht, eine Ausnahme mache von andern Feldern; auch ihm scheint seine Erfahrung ausreichend, um einer unbegrenzten Dauer ihrer Fruchtbarkeit gewiss zu sein; aber noch ehe seine Kinder herangewachsen sind, wird er seinen Irrthum gewahr: seine Farm geht in die Hand eines zweiten über, der in gleicher Weise wie der erste, nur mit mehr Capital und Arbeit, den Boden ausraubt; und wenn auch dieser gewahr wird, dass der Pflug nicht mehr ausreicht, um die Erträge auf der ursprünglichen Höhe zu erhalten, dann erst gelangt sein Feld in den Besitz des deutschen Colonisten, den man gelehrt hat, dass der Mist die Seele der Landwirthschaft ist – eine Weisheit, von der seine Vorgänger nichts wussten, und der dann den Boden in seiner Weise erschöpft[1].

  1. „Die Agricultur in der Provinz Minas steht, soweit ich sie zu beobachten Gelegenheit hatte, auf einer sehr tiefen Stufe. Sie besteht in einem argen Raubsystem, indem den Aeckern unverhältnissmässig viel genommen und gar nichts gegeben wird. Es wird z. B. eine Roça gemacht, d. h. Bäume und Gebüsche werden auf einem bestimmten Stück niedergeschlagen, gegen das Ende der trockenen Jahreszeit niedergebrannt und dann von diesem Acker drei bis vier Ernten gewonnen, worunter sehr oft zwei unmittelbar auf einander folgende Maisernten. Dann lässt man das Stück Land wieder so lange liegen, bis es hinreichend mit Gebüschen bedeckt ist, um sie von neuem zu brennen, was drei bis zwölf Jahre dauert, je nach den Localverhältnissen oder den Bedürfnissen des Besitzers. Es ist einleuchtend, dass der Boden hier also nie den geringsten Ersatz für die ihm durch die Ernten entzogenen Bestandtheile erhält, daher auch die allgemeine Klage über die fortwährend zunehmende Unfruchtbarkeit der Roças. Einer der intelligenteren Landwirthe der Provinz erzählte mir, dass bei keiner Culturpflanze der Rückschlag so fühlbar sei wie beim Zuckerrohr und dass er gegenwärtig auf den nämlichen Roças nur den dritten Theil des Ertrags erziele, den sein Vater vor etwa 55 bis 60 Jahren gewonnen habe; und doch, meinte er sehr naiv, stehe er sich bei den geringeren Ernten viel besser als sein Vater bei seinen grossen, denn jener habe das Fass Cachaza (Branntwein) nicht einmal zu einem Milreis verkauft, ihm selbst aber sei sie im vergangenen Jahre mit vierzehn bezahlt worden. In seiner Art hatte der Mann wohl Recht; wie wird aber sein Sohn einmal stehen, wenn er in dem nämlichen System fortarbeitet und die Cachaza wieder wohlfeiler wird? In der Provinz Bahia ist der Rückschlag des Zuckerrohrs so beträchtlich, dass sich vor ungefähr einem Jahr eine Anzahl Plantagebesitzer vereinigten und ein Schiff ausschickten, um von verschiedenen überseeischen Gegenden neue Arten Zuckerrohr zu holen. Sie schieben ihre schlechten Ernten einzig und allein einer Entartung des Rohrs zu, ohne zu bedenken, dass durch die fortwährend im grossartigen Maasstabe ausgeführte Zuckerrohrcultur ihre Felder im höchsten Grad erschöpft sind.“
    (Reise durch die Provinz Minas Geraes von J. J. von Tschudi. Beil. d. Allg. Zeit. Nr. 147. 27. Mai 1858.)

    WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_423.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)