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Halme, der Blätter und des Korns enthalten habe; indem wir die zur Bildung des Strohes nöthigen Mineralsubstanzen dem Felde liessen, während die des Korns fortwährend hinweggenommen wurden, so häuften sich die ersteren im Verhältniss zu dem Rest der Bodenbestandtheile des Korns, die das Feld noch enthielt, an. Das Feld behielt seine Fruchtbarkeit für das Stroh, die Bedingungen für die Körnerbildung nahmen ab.

Die Folge dieser Ungleichheit ist eine ungleichförmige Entwickelung der ganzen Pflanze. So lange der Boden alle zur gleichmässigen Entwickelung aller Theile der Pflanze nöthigen Aschenbestandtheile im richtigen Verhältniss enthielt und abgab, blieb die Qualität des Samens und das Verhältniss zwischen Stroh und Korn in den abnehmenden Ernteerträgen gleichmässig und ungeändert. In dem Maass aber, in welchem die Bedingungen zur Blatt- und Halmbildung günstiger wurden, nahm mit den Samenerträgen zunächst auch die Qualität des Samens ab. Das Merkmal dieser Ungleichförmigkeit in der Zusammensetzung des Bodens als Folge der Culturen ist, dass das Gewicht der geernteten Scheffel Korn sich vermindert. Während im Anfang zur Bildung des Korns eine gewisse Menge von den Bestandtheilen des wieder zugeführten Strohes (Phosphorsäure, Kali, Bittererde) verbraucht wurde, tritt später das umgekehrte Verhältniss ein, es werden von den Kornbestandtheilen Phosphorsäure, Kali, Bittererde zur Strohbildung in Anspruch genommen. Der Zustand eines Feldes ist denkbar, wo wegen der vorhandenen Ungleichförmigkeit in dem Verhältniss der Bedingungen zur Stroh- und Kornbildung, wenn Temperatur und Feuchtigkeit die Blattbildung begünstigen, ein Halmgewächs einen enormen Strohertrag mit leeren Aehren liefert.

Der Weingärtner und Obstzüchter beschneidet die Bäume und den Rebstock, um mehr und grössere Früchte zu gewinnen, sie beschränken die Zweig- und Blattbildung, und in manchen Gegenden, wie in Niederbayern, findet man es häufig vortheilhaft, das Getreide auf halber Höhe abweiden zu lassen oder abzuschneiden. Die Folge davon ist, dass man mehr oder eine bessere Qualität Samen erntet. In tropischen Gegenden tragen viele Halmgewächse keinen oder wenig Samen, weil der Boden das richtige Verhältniss zur Samen- und Blattbildung nicht enthält.

Die Grösse der Samen steht bei vielen Pflanzen im umgekehrten Verhältniss zur Blattentwicklung. Tabak, Mohn, Klee haben verhältnissmässig kleinere Samen als die Halmgewächse.

Der Landwirth kann bei seinen Pflanzen auf die Richtung der vegetativen Thätigkeit nur durch den Boden einwirken, d. h. durch das Verhältniss der Nahrungsstoffe, die er demselben giebt; zum höchsten Kornertrag gehört, dass der Boden ein überwiegendes Verhältniss an den zur Samenbildung nöthigen Nahrungsstoffen enthält. Für die Blattgewächse, Rüben- und Knollengewächse ist dieses Verhältniss umgekehrt.

Eine mittlere Ernte Rüben mit Blättern enthält fünfmal, eine Klee- oder Kartoffelernte zweimal so viel Kali als eine Weizenernte im Korn und Stroh von gleicher Bodenfläche. Mit einer Klee- und einer Kartoffelernte zusammen nimmt man zwei Hectaren Feld eben so

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_395.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)