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zurückgehalten; sie vermag die wiederkehrenden günstigen abzuwarten und während in ihrer Zunahme einfach ein Stillstand eintritt, hat das einjährige Gewächs die Grenze seines Lebens erreicht und stirbt ab.

In der perennirenden Pflanze wendet sich im Anfang ihrer Entwickelung die stärkste Wirkung ihrer vegetativen Thätigkeit zunächst der Ausbildung ihrer Wurzeln zu; die atmosphärischen Nahrungsmittel, welche die Blätter aufgenommen haben, dienen – wie dies am augenfälligsten bei den Holzpflanzen wahrnehmbar ist, die in der ersten Zeit ihrer Entwickelung so langsam und später so rasch zu wachsen scheinen – zur Ausbreitung und Verlängerung ihrer unterirdischen Aufsaugungsorgane; wenn ihre Wurzeln einen gewissen Umfang gewonnen haben, so nimmt von da an, in weit grösserem Verhältniss als im Anfang, ihr Stamm oder Stengel an Stärke, die Zweige, Triebe und Blätter in ihrer Anzahl zu.

In der Entwickelung der einjährigen Pflanze wird die Nahrung gleichzeitig in zwei Richtungen für die Ausbildung der Triebe, Wurzeln und Blätter verwendet, sie ist darum in Beziehung auf die gleichmässige Zufuhr und das richtige Verhältniss von Nahrung weit abhängiger von der Bodenbeschaffenheit und der Witterung, wie die mehrjährige Pflanze; die Entwickelung aller Theile der einjährigen Pflanze ist an eine ganz bestimmte, verhältnissmässig kurze Zeitdauer gebunden und ihr Wachsthum ist nur dann ganz vollkommen, wenn die äusseren Bedingungen eben so günstig als die Bodenbeschaffenheit sind.

Für die dauernden Rasen- und Wiesenpflanzen erscheint die Bildung unterirdischer Sprossen von der grössten Bedeutung, weil durch sie die Vegetation erhalten wird; sie scheint zumeist in Fällen einzutreten, wo Mangel an Nahrung oder äussere Störungen das einjährige Gewächs gefährden würden. Nur der kleinste Theil der Pflanzen auf einem Rasenstück einer dicht bestandenen Wiese bildet Halme, die meisten entwickeln nur Blätterbüschel; manche ist ganz auf unterirdische Sprossenbildung beschränkt. Eine Landschaft empfängt im Wesentlichen ihren Charakter durch die perennirenden Gewächse, welche überall, wo ihnen der Mensch nicht hindernd entgegentritt, Besitz vom Boden nehmen; abgeholzte Waldstrecken bedecken sich im folgenden Jahre sogleich mit Pflanzen, von welchen viele (z. B. die Himbeere) in demselben Jahre blühen und Früchte tragen und darum nicht aus Samen entstanden sein können; fortsprossende Wurzeltriebe erhalten eine Reihe von Jahren hindurch die Pflanze auf einer niederen Stufe, bis endlich die Bedingungen einer vollkommenen Entwickelung wieder eintraten.

Auf diesem Verhalten beruht die Dauer unserer Wiesen; die Sicherheit ihrer Erträge unter wechselnden Witterungs- und Bodenverhältnissen liegt in der grossen Anzahl Pflanzen, welche sich auf einer niederen Stufe ihrer Entwickelung zu erhalten vermögen.

Während die eine Pflanzenart sich nach aussen hin entwickelt, blüht und Samen trägt, sammelt eine zweite und dritte abwärts die Bedingungen eines gleichen zukünftigen Gedeihens; die eine scheint zu verschwinden, indem sie einer zweiten oder dritten Platz macht, bis auch für sie die Bedingungen des Wachsthums wiedergekehrt sind. Aschendüngung ruft aus der Grasnarbe die kleeartigen Gewächse hervor; bei

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_378.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)