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Die Landwirthe empfanden das Bedürfniss sich Rechenschaft über ihre Handlungen zu geben; zu wissen, dass sie das Rechte in der richtigen Weise thun, erschien Allen für den Fortschritt unabweisbar.

Wenn man in der That ein Lehr- oder Handbuch der praktischen Landwirthschaft aus der jüngsten Zeit aufschlägt, so sieht man, mit welchem Eifer sie diese Aufgabe betrieben; die Wirkung des Bodens, des Düngers, das Bewässern der Wiesen, das Entwässern, die Wirkung jedes einzelnen Dungstoffes auf jede einzelne Culturpflanze – alles ist in Harmonie gebracht und auf das schönste erläutert und erklärt; da ist kein Vorgang dunkel, alles ist erforscht und fertig, und ein gewisser Stolz erfüllt die Brust der Lehrer, die so viel gethan haben, um die Landwirthschaft in den Rang einer Wissenschaft zu erheben.

Es ist aber Alles Schein, und nirgendwo ein Gesetz oder eine Wahrheit[1]. „Wenn es in der Welt (sagt Hoskyns in seiner Chronicle of a clay farm) eine Sorte von Geistern giebt, die einen angeborenen Widerwillen gegen den Fortschritt hegen, so giebt es eine andere thatsächlich viel schlimmere, nämlich die, welche bestimmt zu sein scheinen, ihn zu carrikiren: es sind dies die närrischen Enthusiasten, welche dem Pfade der Wahrheit wie verzerrende Schatten folgen, und ihr ruhiges und klares Profil bei jedem vorkommenden Gegenstand in alle mögliche Mannichfaltigkeit einer burlesken und lächerlichen Form werfen; welche gleich Strassenneuigkeitskrämern alle Dinge übertreiben, in die Livree der Wissenschaft wie Affen in Soldatenkleider gehüllt sind, und die Sprache derselben, die sie in zweiter Hand reden, etwa so verstehen, wie der Werkzeugschleifer den Gebrauch eines Werkzeugs versteht, zu welchem es seine Kurbel untauglich schleift. Die Landwirthschaft hat genug solche Narren gehabt. Carricaturen jeder Art drängten sich an die Fersen jeder Verbesserung, jeder Erfindung, jedes guten Gedankens, jedes neuen Düngers, bis die Wissenschaft sich beim Klang ihres eigenen Namens schämen musste, und froh war in Staubkitteln incognito reisen zu können; diese Plage, die in der gegenwärtigen Decade ihren Höhepunkt erreicht hat, nahm den Anfang ihrer vergiftenden Entwickelung in der vorigen unseres neunzehnten Jahrhunderts.“

Die Landwirthschaft wusste nicht, dass die Erklärung eines noch so wenig umfassenden Falls oder Vorgangs, oder die Auffindung der beinahe augenfälligen Ursache einer Wirkung immer sehr viel Mühe und Umsicht koste; dass in der Chemie z. B. an jeder noch so einfachen Erklärung eines speciellen Falles der Schweiss vieler thätigen und beharrlichen Arbeiter klebt; sie glaubte, dass man, um in den Besitz zu gelangen, nur wollen dürfe, und da die Carricatur ihr den Besitz ohne alle Anstrengung versprach, so gab sie sich ihrer Leitung hin. Die Landwirthe waren um so zufriedener mit ihrem scheinwissenschaftlichen Verfahren, da es ihnen befreundet war, und keine besondere Anstrengung kostete. Das eigentlich Neue war nur die Sprache, und die technischen Namen erlernten sich bald. Jeder hielt sich vollkommen befähigt, agricultur-chemische Versuche anzustellen, selbst Männer, die von der Chemie

  1. The Chronicle of a clay farm by Talpa. Agricultural gazette.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_341.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)