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die Quelle so vieler Uebel sind. Anstatt eines harmonischen Ganzen hat man eine Missgestalt, einen grossen Kopf auf einem kleinen Körper, ungeheure Arme und dünne, schwache Beine, einen grossen Magen und eine kleine Lunge. Wenn Laune und Zufall, anstatt Vorhersicht und Ueberlegung, und altherkömmliche Gewohnheiten im Widerspruch mit Naturgesetzen die Bewegung und Kraftverwendung des Staatsorganismus regeln, so stellt sich von selbst Schwäche und Mangel, und in ihrem Gefolge Armuth und Elend ein. Darum führt der barbarische Staat durch unrichtige und ungleich vertheilte Besteuerung ganze Bevölkerungen ihr Lebenlang der Verhungerung entgegen, wenn sie genöthigt sind, eine zu grosse Summe ihrer eigenen Kraft zu ihrer blossen Fortdauer und für Zwecke zu verwenden, durch welche die Kräfte aller einzelnen Theile nicht vollkommen wieder hergestellt werden. Darum haben die Staaten mit grossen stehenden Heeren nur den Schein von Stärke, weil ein dauernder Aderlass den besten Theil ihres Blutes und ihre edelsten Säfte entzieht; ihre Macht ist der Kraft gleich, welche der Wilde im Branntweinrausche findet; wenn der Rausch verfliegt, dann ist die Macht mit der Kraft dahin.

„Alles was dem Zufall, dem freien Willen, den Leidenschaften der Menschen oder dem Grade der Intelligenz anheim gegeben zu sein scheint, ist an eben so feste, unverbrüchliche und ewige Gesetze geknüpft wie die Erscheinungen der materiellen Welt. Niemand kennt den Tag oder die Stunde seines Todes, und nichts erscheint zufälliger als die Geburt eines Knaben oder eines Mädchens. Aber wie Viele von einer Million in einem Lande zusammenlebender Menschen in 10 bis 20 bis 40 bis 60 Jahren gestorben, wie viel Knaben und Mädchen in einer Million Geburten enthalten sein werden, dies ist so gewiss und viel gewisser noch als irgend eine menschliche Wahrheit.“

„Die Statistik der Gerichtshöfe hat uns von der regelmässigen Wiederkehr derselben Verbrechen unterrichtet, und es ergiebt sich daraus die für unsern Verstand, weil die Verbindungsglieder fehlen, unbegreifliche Thatsache, dass man für jedes grössere Land die Zahl der Verbrechen und der einzelnen Arten derselben für jedes kommende Jahr mit derselben Gewissheit voraussagen kann, mit welcher man die Zahl der Geburten und natürlichen Todesfälle bestimmt hat. Von hundert der vor dem höchsten Gerichtshofe in Frankreich Angeklagten werden 61, in England 71 verurtheilt. Die Abweichungen im Mittel betragen kaum den hundertsten Theil des Ganzen. Die Anzahl von Selbstmorden im Allgemeinen, durch Schiesswaffen, durch den Strick lassen sich für 15 Jahre mit Zuverlässigkeit vorher bestimmen.“

„Eine jede grosse Anzahl Erscheinungen derselben Art, welche periodisch auf- und niedergehen, führt auf ein unveränderliches Verhältniss. Dies ist das Gesetz der grossen Zahlen, dem alle Dinge und alle Ereignisse ohne Ausnahme unterworfen sind. Diese Gesetze haben in der moralischen Welt nichts mit dem innern Wesen von Tugend und Laster, sondern mit den äussern Ursachen und den Wirkungen zu thun, die sie in der menschlichen Gesellschaft hervorbringen. Den Einfluss der Erziehung und der Gewöhnung an Ordnung und Arbeit auf die Sittlichkeit der Menschen leugnet Niemand, ohne dass es Jemandem einfällt, diese Sittlichkeit

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_317.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)