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die Kleidung, Heizung und Arznei vertreten, sie selbst sind aber durch Befriedigung keines der anderen Lebensbedürfnisse ersetzbar, sie sind absolute oder unentbehrliche Lebensbedürfnisse.

Beim Mangel an innerem Widerstand (beim Hunger) wirken die nämlichen Naturkräfte, welche die Lebenserscheinungen bedingen, einem Schwerte gleich, welches allmählich bis zum Mittelpunkte des Lebens unaufhaltsam dringt und dessen Thätigkeit aufhebt.

Der Mensch bedarf für die Entwicklung, Vervollkommnung, Erhaltung der eigenthümlichen Thätigkeiten seiner Sinnorgane gewisser anderen Bedingungen, welche seine angenehmen und nützlichen Bedürfnisse ausmachen. Ausser diesen hat der Mensch noch eine Anzahl anderer Bedürfnisse, welche aus seiner geistigen Natur entspringen, und die durch Naturkräfte nicht befriedigt werden können; es sind dies die mannichfaltigen Bedingungen der Functionen seines Geistes, auf deren Entwickelung, Vervollkommnung und Erhaltung die richtige und zweckmässige Verwendung der Kräfte des Körpers, so wie die Lenkung und Leitung der Naturkräfte zur Hervorbringung aller seiner nothwendigen, nützlichen und angenehmen Bedürfnisse beruhen.

Wie in dem Leibe des Individuums, so geht in der Gesammtheit aller Individuen, welche den Staat ausmachen, ein Stoffwechsel vor sich, der ein Verbrauch aller Bedingungen des Lebens und Zusammenlebens ist.

Silber und Gold haben in dem Organismus des Staates die Rolle der Blutkörperchen in dem menschlichen Organismus übernommen; gleich wie diese runden Scheibchen, ohne selbst einen unmittelbaren Antheil dem Nutritionsprocess zu nehmen, die Vermittler des Stoffwechsels, der Wärme- und Krafterzeugung sind, durch welche die Temperatur erzeugt und die Bewegung des Blutes und aller Säfte bedingt werden, so ist das Geld der Vermittler aller Thätigkeiten im Staatsleben geworden.

Im Mittelalter bezahlte der Steuerpflichtige seine Abgaben in Korn, in Wein, in Eiern und Hühnern, in Frohnden; alle seine unentbehrlichen Bedürfnisse erzeugte er sich selbst. Die Colonialwaaren waren ihm unbekannt; mit einem halben Pfunde Heller bestritt er, was er an Werkzeugen bedurfte. Die Gemeinden besassen ihre Brauhäuser für Bier; an vielen Orten kauften die städtischen Behörden den Wein und verzapften ihn an die Bürger der Stadt. Gold und Silber waren für die grosse Masse Waaren, die sie auf dem Leibe oder in ihren Häusern zur Schau trugen. Seitdem aber das Geld die Function der Sauerstoffträger im Organismus des Staates übernommen hat, bedienen sich die Reichsten an der Stelle der massiven Geräthe aus Silber und Gold des Kupfers und weissen Messings mit einem Anfluge von Silber und Gold.

Der Stoffwechsel im Staate, so wie im Leibe des Menschen, ist die Quelle aller seiner Kräfte, seine Fortdauer beruht in dem Ersatze der verbrauchten Lebensbedürfnisse, in der Erneuerung oder Wiederkehr aller Bedingungen des Lebens und Zusammenlebens. Wie in dem thierischen Körper der Stoffwechsel bemessen werden kann durch die Anzahl der Blutkörperchen, welche in einer gegebenen Zeit den Weg von Herzen zu den Capillarien und von da zurück zu dem Herzen nehmen, so ist der Stoffwechsel im Staatskörper messbar durch die Geschwindigkeit mit welcher die Geldstücke von einer Hand in die andere gelangen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_315.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)