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Von einer gegenseitigen Beziehung zwischen beiden war vor einigen Jahren noch keine Rede. Man entdeckte nun, dass das Bittermandelöl an der Luft fest und krystallinisch wurde, und dass der entstandene Körper identisch in seinen Eigenschaften und seiner Zusammensetzung mit Benzoesäure ist. Eine Beziehung zwischen beiden war nach dieser Erfahrung unverkennbar. Die Beobachtung erwies, dass bei dem Uebergange des Bittermandelöls in Benzoesäure Sauerstoff aus der Luft aufgenommen wird, und die Analyse beider setzte die vorgegangene Umwandlung in Zahlen fest, und so weit sie erklärbar war, erklärte sie sie damit.

In einer ähnlichen Weise wurde durch das Studium der Veränderungen, welche das Kartoffelfuselöl durch den Einfluss des Sauerstoffs erfährt, eine bestimmte Beziehung zwischen diesem Körper und der Baldriansäure entdeckt und durch den Zahlenausdruck dargethan, dass sich beide zu einander wie der gewöhnliche Weinalkohol zu der Essigsäure verhalten.

Der Harn des Menschen enthält Harnstoff, häufig Harnsäure, in dem Harne gewisser Thierclassen fehlt die Harnsäure, in dem Harne anderer der Harnstoff. Mit der Zunahme der Harnsäure nimmt der Harnstoffgehalt des Harnes ab, der Harn des Fötus der Kuh enthält Allantoin, in dem Menschenharne macht die Oxalsäure einen selten fehlenden Bestandtheil aus. Der Wechsel in gewissen vitalen Vorgängen im Organismus ist begleitet von einem entsprechenden Wechsel in der Natur, Menge und Beschaffenheit der Verbindungen, welche durch die Nieren secernirt werden. Es ist die Aufgabe des Chemikers, die beobachteten Beziehungen quantitativ auszudrücken, in welchen diese Körper zu einander und zu den Vorgängen im Organismus stehen.

Die Chemie unterlegt zuvörderst durch die Analyse den Wörtern Harnstoff, Harnsäure, Allantoin, Oxalsäure ihre quantitative Bedeutung; durch diese Formeln wird noch keine Beziehung zwischen ihnen gegenseitig hergestellt, indem sie aber ihr Verhalten und die Aenderungen untersucht, welche diese Verbindungen unter dem Einflusse des Sauerstoffs und des Wassers, derjenigen Körper also erleiden, die an ihrer Bildung oder Veränderung im Organismus Antheil haben, so gelangt sie zu Ausdrücken eines bestimmten und unverkennbaren Zusammenhanges. Durch die Hinzuführung von Sauerstoff zu Harnsäure spaltet sie sich in drei Producte, in Allantoin, Harnstoff und Oxalsäure. Durch eine grössere Zufuhr von Sauerstoff geht die Harnsäure gerade auf in Harnstoff und Kohlensäure. Das Allantoin stellt sich dar als harnsaurer Harnstoff. Die Vergleichung der von dem Chemiker entdeckten Bedingungen des Ueberganges der Harnsäure in Harnstoff mit denjenigen, die den Vorgang im Organismus begleiten, führt zu dem Schlusse, dass die Bedingungen (in dem erwähnten Falle Zufuhr von Sauerstoff) in beiden Fällen die nämlichen sind oder dass sie von einander abweichen. Diese Abweichungen geben jetzt neue Anhaltpunkte zu Untersuchungen ab; mit ihrer Ermittelung ist der Vorgang erklärt.

Der Harnstoff und die Harnsäure sind Producte der Veränderungen, welche die stickstoffhaltigen Bestandtheile des Blutes unter dem Einflusse des Wassers und des Sauerstoffs erleiden. Die Beziehung zwischen dem letzteren und der Harnsäure, dem Harnstoffe zu dem Sauerstoffe

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_214.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)