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Und so wird es ihm gelingen Chinin, Caffeïn, die Farbstoffe der Gewächse, und alle Verbindungen zu erzeugen, welche keine vitalen, sondern nur chemische Eigenschaften besitzen, deren kleinste Theile sich zu Krystallen ordnen, deren Form und Gestalt eine nicht organische Kraft bestimmt. Aber nie wird es der Chemie gelingen eine Zelle, eine Muskelfaser, einen Nerv, mit einem Wort einen der wirklich organischen, mit vitalen Eigenschaften begabten Theile des Organismus oder gar diesen selbst in ihrem Laboratorium darzustellen. Wer jemals kohlensaures Ammoniak, kohlensauren, phosphorsauren Kalk, ein Eisenerz, ein kalihaltiges Mineral gesehen hat, der wird von vorne herein es für ganz unmöglich halten, dass aus diesen Stoffen durch die Wirkung der Wärme, Elektricität oder einer anderen Naturkraft jemals ein organischer, der Fortpflanzung und höheren Entwickelung fähiger Keim sich bilden könne.

Die unorganischen Kräfte schaffen immerdar nur Unorganisches; durch eine in dem lebendigen Leib wirkende höhere Kraft, deren Diener die unorganischen Kräfte sind, entsteht der organische, eigenthümlich geformte, von Krystall verschiedene und mit vitalen Eigenschaften begabte Stoff.

Man hat noch vor hundert Jahren fest geglaubt, dass Fische und Frösche in Sümpfen, dass Pflanzen und allerlei Ungeziefer in gährenden und faulenden Mischungen, in feuchten Sägespänen von selbst entstünden. War dies wahr, so konnte nicht geleugnet werden, dass unter ähnlichen Umständen auch einmal ein Mensch von selbst entstehen oder entstanden sein könne. Aber die exacte Naturforschung hat dargethan, dass alle diese für Wahrheiten gehaltenen Meinungen auf falschen und leichtfertigen Beobachtungen beruhten; in allen untersuchten Fällen hat man Keime und Samen der Pflanzen, Eier der Thiere aufgefunden, aus denen sie im Moder sich entwickelten; ein Ei, ein Same stammt aber von einem Organismus.

Es haben manche Philosophen behauptet, das Leben sei wie die Materie von Ewigkeit dagewesen, es habe keinen Anfang gehabt.

Die exacte Naturforschung hat bewiesen, dass die Erde in einer gewissen Periode eine Temperatur besass, in welcher alles organische Leben unmöglich ist; schon bei 78° Wärme gerinnt das Blut. Sie hat bewiesen, dass das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte. Diese Wahrheiten wiegen schwer, und wenn sie die einzigen Errungenschaften dieses Jahrhunderts wären, sie würden die Philosophie zum Dank an die Naturwissenschaften verpflichten.

Dieselben Dilettanten in der Naturwissenschaft, welche nicht wissen, was das Fieber oder eine Entzündung oder der Schnupfen ist, oder wie das Blut entsteht, oder zu was die Galle dient, dieselben Kinder in der Erkenntniss der Naturgesetze behaupten, und wollen das unwissende und leichtgläubige Publicum glauben machen, dass sie Aufschlüsse zu geben vermöchten über die Entstehung der Gedanken, über die Natur und das Wesen des menschlichen Geistes. Der geistige Mensch, so sagen sie, sei das Product seiner Sinne, das Gehirn erzeuge die Gedanken durch einen Stoffwechsel und verhalte sich zu ihnen wie die Leber zur Galle. So wie die Galle untergehe mit der Leber, so gehe der Geist unter mit dem Gehirn.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_185.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)