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aus Silicium, Aluminium, Calcium, Kalium und Sauerstoff bestehen, welche durch die chemische Affinität zusammengehalten werden und durch die Cohäsionskraft Festigkeit erlangen, weil also chemische und physikalische Kräfte an dem Haus einen bestimmten Antheil haben – Sie würden ihm mit einem Lächeln des Mitleids antworten, denn Sie wissen wie ein Haus entsteht. Die äussere Gestalt, die innere Einrichtung, die Vertheilung der Räume, alles geht von einem Baumeister aus; das wirkliche Haus gestaltet er nach einem ideellen Haus, das ausserhalb seines Geistes nicht existirt, und die im Geist erzeugte und vollendete Idee verwirklicht er in dem Bau selbst durch Kräfte, welche in dem Organismus des Menschen erzeugt werden, und welche die chemischen und physikalischen Kräfte, von denen das Baumaterial seine Eigenschaften empfangen hat, zu Dienern der Idee machen. Immer und überall setzt die Entstehung eines Hauses die Idee des Hauses und eine Ursache voraus, welche andere Kräfte in gewissen Richtungen nach einer gewissen Ordnung in Bewegung bringt, und deren Wirkungen entsprechend dem zu erreichenden Zweck leitet.

In der niedrigsten wie in der höchsten Pflanze, in ihrem Bau wie in ihrer Entwickelung, sehen Sie das Material zu Formen von einer Feinheit und Regelmässigkeit und in einer Ordnung zusammentreten, welche Alles übertreffen was wir in der Einrichtung eines Hauses wahrnehmen; und bei jeder Pflanzengattung wiederholt sich die Idee, welche uns in ihrer Unveränderlichkeit jetzt als das Naturgesetz erscheint. Wir sehen zuletzt ein fertiges Ganzes vor uns, das in einer gewissen Zeit sich selbst im Samen wieder erzeugt.

In den Formen, in der geordneten gesetzlichen Entwickelung erkennen wir einen Zweck und eine Idee, aber unsere Sinne nehmen nur in dem Werk den Baumeister wahr; wir sehen die Kraft nicht, welche das widerstrebende Material bewältigt und es zwingt sich in die vorgeschriebenen Formen und Ordnungen zu fügen. Aber unsere Vernunft erkennt, dass die Idee einen Urheber habe, und dass in dem lebendigen Leib eine Ursache bestehe, welche die chemischen und physikalischen Kräfte der Materie beherrscht, und sie zu Formen zusammenfügt, welche ausserhalb des Organismus niemals wahrgenommen werden.

Alle Gestaltungen der unorganischen Körper sind durch ebene Flächen und gerade Linien, alle Gestaltungen der Träger organischer Thätigkeit sind durch krumme Flächen und krumme Linien begrenzt; in den organischen Körpern muss eine Ursache wirken, welche die gerade Linie krumm biegt.

Nur die mangelhafte Kenntniss der anorganischen Kräfte ist der Grund, warum von manchen Männern die Existenz einer besonderen in den organischen Wesen wirkenden Kraft geleugnet, warum den unorganischen Kräften Wirkungen zugeschrieben werden, die ihrer Natur entgegengesetzt sind, ihren Gesetzen wiedersprechen. Sie wissen eben nicht, dass die Entstehung einer jeden chemischen Verbindung nicht eine, sondern drei Ursachen voraussetzt; immer ist es die formenbildende Kraft der Cohäsion oder Krystallisation, welche unter Mitwirkung der Wärme die chemische Affinität in ihren Aeusserungen regelt, die Ordnungsweise

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_181.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)