Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 172.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Classe der Salze ein. Die Mineralogie errang ihre Unabhängigkeit, nicht indem sie die Lehren der Chemie von sich entfernt hielt, sondern dadurch, dass sie die Festsetzung der Eigenschaft der Zusammensetzung in ihr Gebiet aufnahm; seitdem die Mineral-Analyse zu einem Theil der Mineralogie geworden ist, sind es die Mineralogen, von denen wir jetzt die merkwürdigsten Aufschlüsse über das Verhältniss der Mischung der Mineralien zu ihrer Form und übrigen Eigenschaften erhalten.

Ein an sich leicht zu beseitigendes Hinderniss der Verständigung besteht in diesem Augenblicke noch darin, dass man in der Physiologie mit einem und demselben Worte nicht immer eine Vereinigung derselben Dinge oder derselben Verbindungen mit denselben Eigenschaften bezeichnet, sondern dass man im Gebrauch der Namen weniger die Natur und Beschaffenheit der Stoffe, als die Rolle, die man ihnen im Lebensprocesse zuschreibt oder ihr Vorkommen in bestimmten Organen berücksichtigt.

In der Physiologie bezeichnet man z. B. mit Harn, mit Galle Flüssigkeiten, die sich in Säcken gewisser Apparate befinden, deren Natur auf das mannichfaltigste wechseln darf, ohne dass sie aufhören, als Harn oder Galle angesehen zu werden. In ähnlicher Weise ist der Begriff von Blut nicht abgeleitet von gewissen Eigenschaften, sondern er knüpft sich ohne alle Rücksicht auf Farbe und Beschaffenheit an die Ernährungsfähigkeit oder Ernährungsfunction und ist unzertrennlich von diesem Begriff, dem alle übrigen Eigenschaften untergeordnet sind.

In der Chemie, welche die Körper ihren Eigenschaften nach studirt, knüpft sich an die Namen Harn, Galle, Blut, Milch etc. ein Inbegriff von gewissen Eigenschaften, in der Art, dass der Name dem Stoff oder der Flüssigkeit nicht gegeben werden darf, wenn die Eigenschaften fehlen, die damit zusammengefasst werden, und da Harn, Galle, Blut, Gemenge mehrerer einfachen Verbindungen sind, so unterscheidet die Chemie die nie wechselnden als die wesentlichen oder charakteristischen von den wechselnden, welche die Haupteigenschaften nicht bedingen.

Der Begriff von Harn ist in der Chemie unzertrennlich von dem Vorhandensein gewisser Verbindungen, des Harnstoffs, der Harnsäure, und es kann chemischerseits einer Flüssigkeit der Name „Harn“ nicht gegeben werden, worin diese Verbindungen völlig fehlen.

Das Blut, die Milch etc. sind Gemenge, d. h. es sind Mischungen, deren Bestandtheile nicht in festen, unveränderlichen, sondern in unbestimmten Verhältnissen zugegen sind; die gemengte Beschaffenheit des Blutes ist schon für das bewaffnete Auge wahrnehmbar; man sieht unter dem Mikroskop rothgefärbte kleine rundliche Scheibchen, die Blutkörperchen, in einer kaum oder schwach gelblich gefärbten Flüssigkeit, dem Serum schwimmen. Die Lymphe enthält zwei farblose Körper, von denen der eine bei gewöhnlicher Temperatur (als Fibrin), der andere in höherer als Gerinnsel sich abscheidet. Die trübe, weissliche Beschaffenheit derselben wird durch sichtbare Fetttröpfchen hervorgebracht. Schüttelt man die Lymphe mit Aether, so wird sie klar und durchsichtig, indem der Aether das Fett auflöst.

Mit gleicher Einfachheit lässt sich die gemengte Beschaffenheit anderer organischer Flüssigkeiten, der Galle z. B., nicht darthun; es gelingt dies demungeachtet leicht durch die Anwendung von chemischen Scheidungsmitteln,

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_172.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)